Fugenelemente

Text

Das Deutsche ist dafür bekannt, sehr lange Wörter bilden zu können; das gilt für die Standardsprache ebenso wie für die Dialekte. „Bandwurmwörter“ wie Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz sind natürlich ziemlich konstruiert und werden im Alltag nicht verwendet – aber grammatisch möglich sind sie durchaus und sie werden auch verstanden.

In der Linguistik nennt man zusammengesetzte Wörter Komposita. Sie können verschiedene Funktionen erfüllen und in unterschiedlichen Formen auftreten. Obwohl man wie im Beispiel oben beinahe beliebig viele Wörter aneinanderreihen kann, setzten sich die meisten Komposita aus nur zwei Bestandteilen zusammen. Oft bleiben die Bestandteile, das Vorder- und das Hinterglied, in ihrer ursprünglichen Form und stehen direkt hintereinander, zum Beispiel in Schlitten-Hund oder Bett-Wäsche. In anderen Fällen werden die Kompositionsglieder durch einen kleinen Einschub miteinander verbunden. Diese Elemente zur Verbindung nennt man Fugenelemente. Die deutsche Sprache kennt eine ganze Reihe von ihnen:

-e-, z.B. Hund-e-Schlitten
-s-, z.B. anstand-s-los
-es-,z.B. Freund-es-Kreis
-n-, z.B. Urkunde-n-Fälschung
-en-, z.B. Staat-en-Bildung
-er-, z.B. Bild-er-Buch
-ens-, z.B. Schmerz-ens-Geld.

Bei etwa 70% der Komposita, deren Vorderglied ein Nomen ist, steht kein Fugenelement zwischen Vorder- und Hinterglied. Die Leerstelle, an der ein Fugenelement denkbar wäre, heißt Nullfuge. Um ein Beispiel von oben wieder aufzugreifen: in der Analyse Schlitten-ø-Hund steht das Zeichen ø für die Nullfuge.

Bild
Anhand von Schuhriemen erläutern wir Ihnen Fugenelemente | © Brett Sayles, über pexels.com
Bildunterschrift
Anhand von Schuhriemen erläutern wir Ihnen Fugenelemente | © Brett Sayles, über pexels.com

Fugenelemente gibt es auch in anderen Sprachen als Deutsch. Auf Englisch sind Fugenelemente außer der Nullfuge selten und auf das -s- beschränkt. Unter den Beispielen für Komposita mit s-Fuge finden sich landsman (‚Landsmann‘) und baker’s dozen (‚13‘). Das Niederländische ähnelt in dieser Hinsicht dem Deutschen und wartet mit verschiedenen Fugenelementen neben der Nullfuge auf (u.a. in zieke-n-huis ‚Krankenhaus‘, onweer-s-wolk ‚Gewitterwolke‘). Auch die skandinavischen Sprachen machen Gebrauch von ihnen (z.B. schwed. märke-s-rätt ‚Markenrecht‘, dän. venn-e-tjeneste ‚Freundschaftsdienst‘, norw. sikkerhet-s-belte ‚Sicherheitsgurt‘).

Der Ursprung der Fugenelemente liegt wohl im Genitiv, der in allen germanischen Sprachen oft mit einem s markiert wird. Daher ist es nachvollziehbar, dass die s-Fuge die häufigste in standarddeutschen Komposita ist. Eindeutig zu erkennen ist das bei Komposita wie Tag-es-Licht ‚Licht des Tages‘ oder Name-ns-tag ‚Tag des Namens‘. Mit ein wenig Wissen über die Sprachgeschichte erkennt man den Genitiv auch in Storch-en-nest ‚Nest des Storchs‘, denn eine ältere Genitivform lautet des Storchen. Die Genitivlesart kann aber nicht jedes Kompositum erklären. Betrachten wir einmal eine Ansicht-s-Karte rein auf der Ebene der Wortbildung: der Genitiv von Ansicht ist identisch mit dem Nominativ (die Ansicht, der Ansicht), das s drückt hier also nicht den Genitiv aus. Auch ein Freund-es-Kreis ist nicht der Kreis eines Freundes, sondern eine Gruppe von Freunden, die einen wie ein Kreis umgibt.

Einige Komposita enthalten als Fugenelement -er-, zum Beispiel Kind-er-wagen oder Bild-er-rahmen. Das ist dann der Fall, wenn auch der Plural dieser Wörter, die im Vorderglied stehen, auf -er enden. Aber das bedeutet nicht, dass das erste Element immer als Plural zu deuten ist: im Kinderwagen liegt normalerweise nur ein Kind und ein Bilderrahmen enthält oft nur ein Bild. Andere Komposita mit den gleichen Vordergliedern enthalten unter Umständen auch ein anderes Fugenelement, die Nullfuge eingeschlossen: Kind-s-Mutter, Bild-Bearbeitung. Das hat phonologische Gründe, hängt also mit der Lautung zusammen.

Bei dieser Vielzahl an Möglichkeiten, Komposita zu bilden, verwundert es nicht, dass verschiedene Varietäten des Deutschen verschiedene Strategien anwenden. Generell trifft man, wie so häufig, auf einen Unterschied zwischen Nord und Süd. Im Oberdeutschen, insbesondere in Österreich und der Schweiz, begegnet man dem Fugen-s in Wörtern, die im niederdeutschen Raum ohne Fugenelement auskommen, zum Beispiel Zug-s-Abteil. Manchmal ist es auch umgekehrt und das Oberdeutsche weist in Komposita eine Nullfuge auf, wo in anderen Varietäten ein hörbares Fugenelement steht, zum Beispiel bei Advent-Kranz. Da das Rheinland sprachwissenschaftlich im Grenzgebiet zwischen Nieder- und Mitteldeutsch liegt, gibt es hier auch in Hinsicht auf Fugenelemente viele Varianten.

Sehr deutlich wurde das bei einer Umfrage des ILR zur Bezeichnung von Schuhriemen in den Dialekten des Rheinlands 2017/18. Es nahmen ca. 1400 Gewährspersonen aus etwa 600 Orten zwischen Emmerich im Norden und Dahlem im Süden, dem Selfkant im Westen und Engelskirchen im Osten des Rheinlands teil.

Das Wort hat eine eindeutige Etymologie. Schuh ist bereits im 9. Jh. als ahd. scuoh belegt (as. skōh, mnd. schō, mhd. schuoch, schuo). Die germanische Wurzel kann als *skōha- rekonstruiert werden und bedeutet in etwa ‚umhüllen, bedecken‘. Riemen ist ebenfalls seit dem 9. Jh. belegt, als ahd. riomo ‚abgerissener Streifen‘ (mhd. rieme, as. riomo), und geht zurück auf die westgermanische Wurzel *reumōn-, die wiederum von einem rekonstruierten Verb mit der Bedeutung ‚aufreißen, graben, ausreißen‘ kommt.

Die Form ohne Fugenelement, Schuhriemen, wurde häufig genannt; sie ist auf der Karte mit einem grünen Punkt markiert. Aber bei den Formen mit Fugenelement sind mehrere Varianten zu erkennen: Schuunriem, Schuhnsriemen, Schuenrehm, Schohnsrehm, Schohnrehme und Schohsrehme sind in verschiedenen Teilen des Rheinlandes zulässige Formen, dazu kommen ihre jeweiligen lautlichen Varianten. Die Verteilung der Varianten lässt sich regional zumindest tendenziell einteilen.

Vom Niederrhein werden vor allem Varianten mit Nullfuge wie Schurieme (Kranenburg) und Schuhriemen (Hünxe) gemeldet. Auch das zentrale und südliche Rheinland sowie das Bergische Land melden links- und rechtsrheinisch vermehrt die Nullfuge. Zwischen Weeze am südlichen Niederrhein und Monschau in der Nordeifel befindet sich ein Gebiet, in dem der Schuhriemen das Fugenelement -ns- enthält (roter Punkt). Vor allem linksrheinisch finden sich Formen wie Schunsriem (Kevelaer-Twisteden), Schoensreem (Selfkant-Hillensberg) oder Schuhnsreem (Krefeld). Aber auch von rechtsrheinischer Seite wurden vergleichbare Angaben, etwa Schonsreme (Köln-Porz), gemacht. Aus einigen Orten, an denen der Schuhriemen die ns-Fuge aufweist, wurden aber auch Alternativen mit anderen Fugenelementen gemeldet. Dazu gehört Köln: während Schohnsr(e)eme einigen Sprecher:innen geläufig ist, verwenden andere Schohnrehmen.

Generell selten ist zumindest im Fall des Schuhriemens die n-Fuge (blauer Punkt). Belege hierfür finden sich in kleineren Clustern wie am südlichen Niederrhein, im Selfkant (Schuanreeme in Waldfeucht-Haaren) und rechtsrheinisch im zentralen Rheinland (Schoonreeme in Königswinter-Pleiserhohn, Schohnrehmen in Bad Honnef-Orscheid). Wie bereits erwähnt ist das häufigste Fugenelement des Standarddeutschen das s. In den Umfrageergebnissen zur Bezeichnung von Schuhriemen in den rheinischen Dialekten wurden aber nur in zwei Orten Angaben mit ausschließlich diesem Element gemacht: Schootsreeme und Schotsrehm in Eschweiler-Dürwiß und Schohsrehme in Bonn-Kessenich (gelber Punkt).

In den auf der Karte violett markierten Orten wurden folgende Angaben gemacht: In Bedburg-Hau-Hasselt Schuunriem und Schuhriemes, in Goch-Hommersum Schuhriem und Schunriemes, in Wachtendonk-Wankum Schoonrehme und Schuh rehm, außerdem in Bonn-Poppelsdorf Schoesrieme und Schohreme. Diese Mischung der regional gebräuchlichen Fugenelemente für Schuhriemen sind nirgendwo anders belegt.

Die rheinischen Dialekte bilden mit den benachbarten Dialekten in den Niederlanden und Belgien ein Dialektkontinuum. Obwohl die Sprachwissenschaft zur besseren Orientierung Linien zur Einteilung von Dialekten zieht, sind diese Linien immer durchlässig und die gesprochenen Varietäten befinden sich in einem Spektrum. Dialektsprecher:innen aus dem limburgischen Venlo zum Beispiel sprechen also ähnlich wie ihre ebenfalls Dialekt sprechenden deutschen Nachbarn aus Nettetal. Was die Bildung von Komposita in den limburgischen Dialekten betrifft, lassen sich Gemeinsamkeiten mit den rheinischen Dialekten Deutschlands feststellen. Auf der Karte sind die limburgischen Entsprechungen der deutschen Fugenelemente in einem jeweils helleren Farbton gekennzeichnet.

Die standardniederländische Bezeichnung für Schuhriemen ist schoenveter, zusammengesetzt aus schoen „Schuh“ und veter „Seil“.  Wie Sie sehen, ist das n in der Mitte von schoenveter kein Fugenelement, denn es gehört zu schoen. Schoenveter weist damit eine Nullfuge auf, was auch für das Niederländische keineswegs ungewöhnlich ist. Wirft man aber einen Blick auf nicht-standardsprachliche Varianten, stellt man fest, dass bestimmte dialektale Bezeichnung für Schuhriemen den deutschen Dialekten aus dem Rheinland sehr ähneln: schoenriem und schoensriem. Diese werden in der Provinz Limburg sowie einzelnen Dörfern in Belgien, nahe der deutschen Grenze, gebraucht. Auf dem ersten Blick erscheint es so, als enthielte auch schoenriem eine Nullfuge, während schoensriem ein s als Fugenelement aufweist. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass schoenriem in Nord- und Mittellimburg verbreitet ist (u.a. schoonréém in Maasbree, schōēnriem in Meerlo, sjoonēējmə in Roggel), wo man den Schuh schoe ohne n nennt (sxu in Arcen, schoe in Beesel, usw.), muss man diesen Eindruck aber korrigieren und stellt fest: das n ist hier ein Fugenelement, die morphologische Analyse ist also schoe-n-riem. Schoensriem wird aus Südlimburg (u.a. sjouwnsreim in Sittard, šŏŋsrēm in Vaals und sjoonsreem in Amstenrade) und Belgien (šo̩nsrēm in Teuven, šonsrēm und schŏnsrēm und schŏnsré:m in Montzen) gemeldet. In diesen Regionen fehlt dem Wort für ‚Schuh‘ ebenfalls das n, stattdessen wird es mit einem Diminutiv versehen, wie es im Niederländischen generell weit verbreitet ist: schoetje (wörtlich „Schühchen“, zum Beispiel in Maasbracht, sxykə in Thorn, šø̜jkə im belgischen Bilzen; das - entspricht dem niederdeutschen Diminutiv -ke). Der Wortstamm ist also auch hier schoe, das n fehlt. In der Zusammensetzung aber taucht es mit einem s auf, sodass man die Analyse schoe-ns-riem aufstellen kann. Im Standardniederländischen würde man übrigens schoen-tje sagen, wenn man den Diminutiv gebrauchen wollte.

In einigen mittellimburgischen Orten, darunter Haelen und Tungelroy, ist auch schoe-riem, also eine Zusammensetzung mit Nullfuge, verbreitet.

Die dialektale Variante schoen(s)riemen kann also entweder mit n-, ns- oder, seltener, mit Nullfuge auftreten. Die Verteilung der Varianten ist bis auf wenige Ausnahmen (aus einzelnen Stadteilen von Venlo wird schoenreem(e) gemeldet) geografisch klar festzumachen: n im Norden (von den Gemeinden Gennep bis Roerdalen) und ns im Süden (von den Gemeinden Sittard bis ins nördliche Belgien).

Bild
Schuhriemen | © LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte
Bildunterschrift
Schuhriemen | © LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte