Muttersprache und Identität

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„Ich spreche Deutsch, Englisch, ein bisschen Spanisch und ein ganz klein wenig Schwedisch.“ Ein solcher Satz – zumindest in dieser Form – ist wohl einer der ersten, die man in einer Fremdsprache zu bilden lernt. Als erstes nennen wir in solchen Vorstellungssituationen für gewöhnlich die Sprache, die wir am besten beherrschen. Dies ist zumeist die Sprache, mit der wir großgezogen wurden: unsere Muttersprache, wie es im Allgemeinmund heißt. Ein fachlicherer Begriff hierfür ist Erstsprache. Manche Menschen haben mehr als eine Erstsprache, insbesondere dann, wenn die Elternteile jeweils eine andere Muttersprache haben, die sie an das Kind gleichermaßen weitergeben.
Ob eine oder mehrere Muttersprachen: Die zuerst erlernte(n) Sprache(n) ist/sind einem vertraut, man ist sie gewohnt. Deshalb fühlen sich die meisten Menschen wohl und heimisch, ja sogar sicher, wenn sie ihre Muttersprache hören oder sprechen können.
Doch was ist, wenn einem dies verwehrt wird?

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Der Satz „Ich spreche …“ in verschiedenen Sprachen und einem rheinischen Dialekt | © LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, CC BY 4.0
Bildunterschrift
Der Satz „Ich spreche …“ in verschiedenen Sprachen und einem rheinischen Dialekt | © LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, CC BY 4.0

Am 21. Februar 1952 und den darauffolgenden Tagen gibt es im damaligen Ostpakistan Demonstrationen der bengalischen Muttersprachler:innen. Aufgrund der Ernennung von Urdu zur alleinigen Staatssprache Pakistans im Vormonat beginnen sich Bengalen, die rund 55 Prozent des relativ frisch gegründeten Staates Pakistan ausmachen, im ohnehin benachteiligten Ostpakistan für ihre Sprache einzusetzen. Denn nicht zuletzt die Muttersprache bedeutet Identifikation mit der eigenen Herkunft. Insbesondere aus einer solchen Identifikation bündelt sich damals der Beginn der bengalischen Sprachbewegung und einhergehend damit der neue Nationalismus der Bengalen. Die Demonstrationen werden jedoch durch Polizeigewalt rücksichtslos bekämpft. Es gibt Tote auf Seiten studentischer Demonstranten in Dhaka.
47 Jahre nach dem von Bengalen sogenannten „Tag der Märtyrer“ und 28 Jahre nach seiner erkämpften Unabhängigkeit von Pakistan stellt Bangladesch 1999 bei der UNESCO den Antrag, den 21. Februar zum Tag der Muttersprache zu erklären.

Seit dem Jahr 2000 wird der Tag der Muttersprache weltweit am 21. Februar von vielen Menschen als Gedenktag zur „Förderung sprachlicher und kultureller Vielfalt und Mehrsprachigkeit“ gefeiert. Er steht somit nicht länger „nur“ für die bengalischen Demonstranten, die ihr Leben im Kampf für ihre Muttersprache ließen:
Er steht vielmehr für alle Sprachen dieser Welt, die von Menschen als Erstsprache erlernt werden.
Er steht für alle Sprachen, mit denen sich Menschen identifizieren, weil sie mit ihnen groß geworden sind; weil sie ihnen (an)vertraut sind.
Er steht für alle Sprachen, die für irgendwen Heimat bedeuten.
Darin eingeschlossen sind auch all die vielen Sprachen, die von jedweder Diskriminierung und Unterdrückung, beispielsweise durch eine gezielt betriebene Sprachpolitik zur Schwächung einer Sprache, betroffen sind oder waren – und aufgrund ihrer geringen Sprecher:innenzahl vom Ausstreben bedroht sind.

Beim Thema Muttersprache wird leider allzu oft vergessen, dass für manche nicht etwa die Standard- oder die sogenannte Hochsprache diejenige ist, die sie als erste Sprache erlernen, sondern eine der häufig zahlreichen Varietäten einer Sprache: ein Dialekt. So bezeichnen Menschen, die im Elternhaus mit Dialekt großgezogen worden, zurecht ihren Dialekt als Muttersprache. Dialekte unterscheiden sich vom festgelegten Standard einer Sprache in unterschiedlichem Ausmaß. Zuweilen können sie durch Grammatik, Vokabular und Aussprache so stark von ihm abweichen, dass es für ein Kind, das die Hochsprache erstmalig in der Schule erlernt, wie eine komplett fremde Sprache wirken muss.
So erging es seit dem 19. Jahrhundert, spätestens aber seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges auch im Rheinland etlichen Kindern, die infolge der eigenen sprachlichen Hürden, beispielsweise Diskriminierungen durch Lehrpersonen, später ihre eigenen Kinder in der Regel vom Dialekt fernhielten. Dies führte dazu, dass es auch für die rheinischen Dialekte heutzutage zunehmend weniger Menschen gibt, die sie beherrschen, geschweige denn als Erstsprache vor dem Standarddeutschen lernen.
Diesen Verlust, die eigene Muttersprache nicht länger frei mit anderen Dialektsprecher:innen sprechen zu können und den vertrauten Klang zu hören, haben viele heute bereits ältere Menschen im Rheinland über die Zeit erfahren müssen.

Wie wichtig ist es also, dass Menschen für ihre Sprache, mit der sie sich identifizieren – ob Dialekt, Regiolekt oder eine andere Varietät –, einstehen, zu ihr stehen, sie tradieren und nicht nur, aber besonders am Tag der Muttersprache zelebrieren. Denn jede Sprache ist es wert, gesprochen und gehört zu werden.
Ein Hoch auf unsere Sprachenvielfalt!