E- und n-Apokope im Rheinland – damals und heute

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Als Apokope oder Tilgung bezeichnet man in der Sprachwissenschaft den Wegfall von Sprachlauten am Wortende. Dieses Phänomen kennen wir auch aus der Standardsprache, wenn bspw. Ich laufe schnell zu Ich lauf‘ schnell verkürzt wird. In einigen Dialekten taucht diese e-Tilgung nicht nur bei Verben, sondern auch bei Substantiven auf (bspw. bei Schul statt Schule). Typisch für den Westen des Rheinlands ist zudem die n-Tilgung, bei der Pluralbildungen auf -(e)n sowie Infinitive wie brechen verkürzt werden: Die dialektalen Formen lauten dann bräke, breche/bresche und ähnlich. Sowohl die e-Tilgung in den Nebensilben als auch die n-Tilgung lassen sich weit zurückverfolgen, wobei die e-Tilgung bereits im 14. Jahrhundert eingetreten ist und die n-Tilgung wohl nach der Reformation stattgefunden hat.

Im Fragebogen 4 (1997) sowie im Fragebogen 11 (2017/18) wurde u. a. die dialektale Form der Wörter Woche, brechen, Flasche und Flaschen abgefragt. Die Ergebnisse wurden kartografisch dargestellt und lassen eine klare Ost-West-Staffelung mit einem schmalen Übergangsgebiet erkennen.

 
 

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e-/n-Tilgung: Vergleich | © LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, CC BY 4.0
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e-/n-Tilgung: Vergleich | © LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, CC BY 4.0

Insgesamt finden sich im Sprachgebiet verschiedene Varianten, von denen drei vermehrt auftreten: Die Kombination aus e- und n-Apokope (gelb), die ausschließliche Verwendung der e-Apokope (rot) und keine Apokopierung (hellblau). Den Karten des ILR zufolge wird im östlichen Rheinland vorrangig die standardnahe Form Flasche/Flaschen verwendet, während im Westen zu Flasch/Flasche apokopiert wird. Mit Woche (zu Woch) und brechen (zu breche) verhält es sich ähnlich. Im weitestgehend rechtsrheinischen Übergangsgebiet wird der Singular apokopiert, die Pluralform bleibt aber lang – so ergibt sich dort die Bildung Flasch (Sg.) / Flaschen (Pl.). Auch die Infinitivform brechen wird dort nicht apokopiert. Das Übergangsgebiet zeichnet sich also dadurch aus, dass die e-Tilgung durchgeführt wird, die n-Tilgung jedoch nicht. Die e-Apokope reicht damit weiter in den Osten des Rheinlands als die n-Apokope.

Im Vergleich der Formen von Flasche in den Wenkerbögen mit den Ergebnissen des ILR fällt auf, dass eine Übereinstimmung vorliegt: Sowohl in Köln und Düren als auch in Leichlingen und Bechen greift man zur Fläsch (oder Flasch), im Osten des Rheinlands in Kreuzberg und Engelskirchen zur Fläsche.

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Ausschnitte aus den Wenkerbögen (WS16, „Flasche“) aus (v. l.): Köln und Düren, Leichlingen und Bechen, Kreuzberg und Engelskirchen | © Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas, Marburg
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Ausschnitte aus den Wenkerbögen (WS16, „Flasche“) aus (v. l.): Köln und Düren, Leichlingen und Bechen, Kreuzberg und Engelskirchen | © Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas, Marburg

Georg Wenker bat seine Gewährspersonen, 40 Sätze ausgehend von der standarddeutschen Schriftform in ihren jeweiligen Ortsdialekt zu übersetzen. Aufgrund der so entstandenen Satzbeispiele können verschiedene Wörter verglichen werden. Dies ist besonders in Übergangsgebieten relevant, da sich dort häufig Mischformen finden lassen. Während in Köln und Düren jede infinite Verbform apokopiert wurde, wurde in Kreuzberg und Engelskirchen bei keiner der Verbformen das -n getilgt. Im Grenzgebiet der beiden Bereiche und damit auch in Leichlingen und Bechen variiert die Verwendung der apokopierten und der nicht apokopierten Form. So finden sich gestorve und gefalle neben drieven und schneien. Auch bei der e-Apokope ist das zu beobachten: Neben der Fläsch aus unserem Beispiel finden sich Bürsch und Büärschte, Sef und Seefe.

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Ausschnitte aus den Wenkerbögen (WS5, „Wochen gestorben“) aus (v. l.): Köln und Düren, Leichlingen und Bechen, Kreuzberg und Engelskirchen | © Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas, Marburg
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Ausschnitte aus den Wenkerbögen (WS5, „Wochen gestorben“) aus (v. l.): Köln und Düren, Leichlingen und Bechen, Kreuzberg und Engelskirchen | © Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas, Marburg

Da Punktsymbolkarten jedoch für jeden Ort nur die am häufigsten genannte Form abbilden, kann es besonders in den Übergangsbereichen zu Verzerrungen kommen. Die örtliche Varianz, die hier fassbar wird, ist kennzeichnend für die Situation an sprachlichen Grenzbereichen. Das ist gut erkennbar, wenn die Angaben zur Bildung von Flasch(e) und Flasche(n) anteilig betrachtet werden: In Köln und Düren wurden fast ausschließlich die apokopierten Varianten angegeben (100 % in Düren, 95,8 % in Köln). Auch die beiden Orte im östlichen Rheinland, die vom Übergangsgebiet weiter entfernt liegen, wählen nur eine Variante: in Leichlingen findet sich die e-Apokope, wobei der Plural nicht apokopiert wird und in Kreuzberg (Gem. Wipperfürth) werden sowohl Singular als auch Plural nicht apokopiert. Im Übergangsbereich der beiden Gebiete, hier am Beispiel von Bechen (Gem. Kürten) und Engelskirchen gezeigt, werden beide dieser Varianten angegeben: In Engelskirchen geben 75 % der Gewährspersonen an, im Dialekt die Formen Flasche/Flaschen zu verwenden und 25 % notierten die Variante Flasch/Flaschen. In Kürten ist dies genau umgekehrt – dort wählten 75 % die Variante mit e-Apokope und 25 % die nicht apokopiert.

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In der Karte wurden die Antworten nach Gemeinden sortiert und kartiert. Wurde in einer Gemeinde mehr als eine Variante gemeldet, sind die genannten Varianten anteilig im Kreisdiagramm verzeichnet.  | © LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte
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In der Karte wurden die Antworten nach Gemeinden sortiert und kartiert. Wurde in einer Gemeinde mehr als eine Variante gemeldet, sind die genannten Varianten anteilig im Kreisdiagramm verzeichnet. | © LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte