Mittelalterliche Schreibsprachen im Rheinland (13.–15. Jahrhundert)

Text

In godes namen amen. Wir Wiebolt der ertzebischof van Kolne důn kunt allen dengienen, die diesen brief seynt inde hůrent, up dat tuschen uns inde unsen lieuen burgeren van Kolne vruntlige verbuntnisse gantzer hemeliggeit inde restliges vrieden vroligkeit achtermales bliuen unuerbruchlich ane argelist, so unkunde wir dat mit diesen briuen, dat wir gelouet hauen inde gelouen mit guten truwen, alle recht, vryheide, die keysere, kuninge inde ertzebischoffe van Kolne geduldiget hant inde gegeuen, inde oich iere gude gewůnede, die sy van alders herebracht haint inde die sy nu haint binnen Kolne inde da inbussen, unuerbruchlig ze haldene, inde stiedegen in die inde confirmeren. (Schreiben des Kölner Erzbischofes Wiebold an die Kölner Bürger von 1302, aus: Lacomblet 1853, S. 16)

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Verbreitungsgebiet der ripuarischen und der niederrheinischen Schreibsprache | aus: Mihm 2000, S. 142
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Verbreitungsgebiet der ripuarischen und der niederrheinischen Schreibsprache | aus: Mihm 2000, S. 142

Nach mehreren Jahrhunderten fast ausschließlich lateinischer Schriftlichkeit auf dem Gebiet des heutigen Rheinlandes (abgesehen von literarischen Texten), kam es im 13. Jahrhundert zu einem grundlegenden Wandel: Zu dieser Zeit wurden die ersten Urkundentexte in deutscher Sprache verfasst und damit der Beginn der Volkssprache Deutsch als alltäglicher Schriftsprache eingeläutet. Wie das obenstehende Beispiel aus Köln aber sehr deutlich macht, handelte es sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht um unsere heutige normierte und kodifizierte (= verbindlich in Regeln festgehaltene) Schriftsprache. Die mittelalterlichen Schreibsprachen im zentralen Rheinland rund um Köln und ebenso am Niederrhein waren durch sprachliche Merkmale gekennzeichnet, die für die jeweilige Region typisch waren und durch die sie sich voneinander (und von andere Schreibsystemen) des deutschen Sprachraums unterschieden; man spricht daher auch von der ripuarischen und der niederrheinischen (auch klevisch-gelderländischen oder mittelniederländischen) Schreibsprache.

Neue Schreibsprache für das Rheinland

Die ersten Zeugnisse regionaler Schriftlichkeit im Rheinland stammen aus Köln, 1248 wird hier in ein Schreinsbuch (ähnlich den heutigen Grundbüchern) ein erster Eintrag auf Deutsch gemacht. In den folgenden 150 Jahren wird nach und nach im gesamten Verwaltungsschrifttum der Stadt das Lateinische durch die ripuarische Schreibsprache ersetzt, 1396 wird dann auch der Verbundbrief, die neue Verfassung Kölns, in deutscher Sprache verfasst.

Am Niederrhein setzt dieser Prozess etwas später ein, hier stammen die ersten nicht-lateinische Urkunden aus dem Jahr 1301. In den nächsten 75 Jahren nehmen die Schriftstücke in niederrheinischer Schreibsprache kontinuierlich zu, die ersten stammen aus adeligen Kreisen, die städtischen Schreibstuben folgen jeweils einige Zeit später. Auch wenn die regionalen Schreibsprachen durch deutliche Varianz gekennzeichnet waren, bildeten sich dennoch im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts sowohl im Kölner Raum als auch am Niederrhein relativ einheitliche Schreibsysteme heraus, die durch ihre jeweils charakteristische Kombination von Merkmalen geprägt waren.

Ripuarische Schreibsprache

Zentrum des Geltungsbereichs der ripuarischen Schreibsprache war Köln: Hier entstanden die frühesten Zeugnisse volkssprachiger Texte, hier wurden die meisten Schreiben verfasst. Dies hatte zur Folge, dass sich die Schreiber in umliegenden Städten wie Jülich, Aachen oder Siegburg an den Kölner Schreibungen orientierten, was zur Ausprägung eines vergleichsweise einheitlichen Systems führte. Zu den wesentlichen Merkmalen der ripuarischen Schreibsprache (die auch im obenstehenden Textausschnitt zu finden sind) gehörten:

  • der typisch ripuarische Stand der Zweiten Lautverschiebung: dat/wat/et 'das/was/es', godes 'Gottes', dages 'Tages', up 'auf' etc. (unverschoben) vs. ze 'zu', wassere 'Wasser' etc. (verschoben)
  • spirantisch gebliebenes wgerm. ƀ und ǥlieuen 'lieben', gegeuen 'gegeben' (<u> = <v>)
  • Mischung aus r-losen und r-haltigen Pronomen: unsen 'unseren', wir 'wir', iere 'ihre'
  • Lexikalische Besonderheiten: tuschen 'zwischen', van 'von', inde 'und', binnen 'innerhalb'
  • Kennzeichnung langer Vokale durch nachgestelltes i/y/ebreif 'Brief', oich 'auch' (i ist am häufigsten; noch heute in Ortsnamen)
  • Monophthonge für heutige Diphthonge (= Zwielaute): up 'auf', vruntlige 'freundlich'
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Stadtrechnung aus Geldern | aus: Cornelissen 2003, S. 24
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Stadtrechnung aus Geldern | aus: Cornelissen 2003, S. 24

Niederrheinische Schreibsprache

Am Niederrhein waren die Verhältnisse andere. Das Gebiet zwischen Arnheim-Kleve-Venlo-Krefeld war unterschiedlichen Territorien zugehörig: den Herzogtümern Kleve und Geldern, der Grafschaft Moers und dem kurkölnischen Amt Rheinberg. Dennoch konnte sich trotz dieser territorialen Vielfalt ein Zusammengehörigkeitsgefühl ausbilden (auch in Abgrenzung gegen Brabant, Westfalen und Köln), das die Entstehung einer gemeinsamen Schreibtradition seit dem 13. Jahrhundert ermöglichte. Ein Beispiel für die niederrheinische Schriftsprache ist der Text einer Urkunde des Grafen von Geldern aus dem Jahr 1328 (aus: Cornelissen 2003, S. 19):

Wj Reynout Greue van Gelren doen cont allen den ghenen, die desen bryf solen sein of horen lesen, dat wi bi rade onser vriende ende ons Raeds om sunderlinghe gonst ende trouwen dienst, die ons ende onsen auderen onse gůede lude ende ghetrowe ons lands van der Nyersen vpuart an beyden siden van der masen ducke ghedaen hebben, ghegheuen hebben ende gheuen allen ghenen, die daer inne woenachtich syn of namaels wesen soelen, Erflic ende vmmermeer vsn ons ende van onsen erfnamen ofte nacomelinghen al sullic recht te hebben ende tebehauden, alse in desen bryf besreuen steet ende hier na voghet, dat lant van Monfort ende die van Erklent ende dat daer to behoert vyt ghenomen.

Zu den typischen Merkmalen der niederrheinischen Schreibsprache gehörten:

  • ausgebliebene Zweite Lautverschiebung: dat 'das', lude 'Leute', te/to 'zu'

  • r-lose Pronomen: wj 'wir', ons 'unser'

  • ende 'und' gegenüber westfälisch unde und ripuarisch inde

  • spirantisch gebliebenes wgerm. ƀ und ǥ: ghegheuen 'gegeben' (<u> = <v>)

  • Kennzeichnung langer Vokale durch nachgestelltes i/y/e (e dominiert): Raeds 'Rates', ghedaen 'getan'

  • Monophthonge für heutige Diphthonge (= Zwielaute): lude 'Leute', siden 'Seiten'

Doch auch diese einzelnen regionale Schreibsprachen waren keinesfalls so einheitlich und eindeutig wie unsere heutigen Schriftsprache, denn auch innerhalb jedes Systems gab es viel Varianz, da die Wiedergabe eines Lautes durch unterschiedliche Buchstaben(kombinationen) möglich war. Im Schriftstück aus Köln wird dies an den zahlreichen Schreibungen für Brief deutlich: <brief>, <briuen>, <breif>. Uneindeutigkeiten in der Laut-Schriftzeichen-Beziehung kennen wir auch heute noch (Eis, Mais, Speyer, Mayer), im Unterschied zu den mittelalterlichen Schreibsprachen ist in der heutigen Schriftsprache aber für jedes Wort eindeutig festgelegt, wie es geschrieben wird.

Lesen und Schreiben im Mittelalter

Einen deutlichen Unterschied zu heute stellte im Mittelalter auch die Anzahl der Schreibkundigen und der Schreiborte dar. Zu dieser Zeit konnten nur wenige Leute lesen und schreiben; diese Fertigkeiten waren in erster Linie dem Klerus in den Klöstern und den gebildeten, professionellen Schreibern an den Höfen der Adligen und in den städtischen Verwaltungseinrichtungen ('Kanzleien') vorbehalten. Doch die Etablierung der regionalen, volkssprachigen Schreibsprachen sowie die sich zunehmend entwickelnde städtische Kultur führten im 14. Jahrhundert zu einer ansteigenden Anzahl an Schreibstätten und Schriftkundigen. So machten komplexer werdende Handelsbeziehungen und Verwaltungsvorgänge schriftliche Aufzeichnungen immer häufiger nötig, ein Wissen, das nun auch von den neu eingerichteten städtischen Schulen vermittelt wurde. So schrieb man bald nicht mehr nur an den Höfen und in den erzbischöflichen und städtischen Kanzleien, sondern auch in den Schreibstätten der handwerklichen Ämter und in den kaufmännischen Kontoren. Und auch einige Zeugnisse privater Schriftlichkeit sind uns aus dieser Zeit überliefert, wie beispielsweise das "Buch Weinsberg" (autobiografische Aufzeichnungen des Kölner Ratsherren Hermann von Weinsberg).

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Schreiber in einem Scriptorium - dem typischen Schreibort des Mittelalters | © Miracle de Notre Dame, f. 19
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Schreiber in einem Scriptorium - dem typischen Schreibort des Mittelalters | © Miracle de Notre Dame, f. 19

Durch dieses vermehrte Aufzeichnungsbedürfnis entwickelten sich auch neue Textsorten, die neben die Schriftstücke traten, die es bereits zur Zeit der lateinischen Schriftlichkeit gegeben hat. Das sind zum Beispiel Stadtbücher, Kopien- oder Missivenbücher mit Abschriften der städtischen Briefe sowie Rechnungsbücher und Quittungen. Aber nicht nur im Verwaltungsbereich konnten diese Entwicklung beobachtet werden, sondern in allen Bereichen des Lebens: Es entstanden wissenschaftliche Texte auf Deutsch, Alltagsschriften wie Rezeptbücher oder Kalender nahmen zu, erste Flugschriften (die Vorläufer der Zeitungen) wurden verteilt. 
 
Die vielfältigen Texte, die in dieser Zeit entstanden, waren natürlich nicht immer für Leser in der näheren Umgebung oder im gleichen Sprachraum bestimmt. Sowohl im Handel als auch in der politischen Verwaltung der Städte wurden Schreiben verfasst, die an Empfänger im Süden oder Norden des deutschen Sprachgebiets oder auch an Adressaten im niederländischsprachigen Raum (z. B. Brabant) gerichtet waren. In diesen Briefen, Rechnungen und Urkunden können wir erkennen, dass viele Schreiber im späten Mittelalter nicht nur die regionale Schreibsprache ihrer Heimat beherrschten, sondern auch Varianten anderer Regionen. So ist in den Texten oftmals eine Empfängerorientierung ersichtlich, d. h. der Schreiber verwendete Formen, die für die Schreibsprache seines Gegenübers typisch waren, nicht aber für seine eigene. Ein Grund hierfür war häufig ein höheres Prestige der Schreibsprache des Adressaten. So finden sich beispielsweise in Kölner Schreiben in den Süden Formen, die im Ripuarischen nicht üblich sind, wohl aber in der Sprache der süddeutschen Empfänger: das statt dat, zeiten statt zyden, geben statt geven. In Schriftstücken aus Moers im niederrheinischen Raum, die an Adressaten im Kölner Raum gerichtet waren, finden sich wiederum ripuarische Merkmale: inde statt ende 'und', vrunt statt vrint 'Freund' oder ganz/genzlich statt alinc/alinclike 'ganz, gänzlich'. Das unterschiedliche Prestige der verschiedenen Schreibsprachen, aber auch ein zunehmendes Bedürfnis nach überregionaler Kommunikation sowie die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert, führen im 16. Jahrhundert sowohl im zentralen Rheinland als auch am Niederrhein zu einem erneuten folgenreichen Umbruch: Die regionalen Schreibsprachen werden durch das hochdeutsche bzw. das niederländische Schriftsystem abgelöst.

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Ausschnitt aus der Kölner Stadtchronik von Johann Koelhoff (1499)
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Ausschnitt aus der Kölner Stadtchronik von Johann Koelhoff (1499)