Josef Müller

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Der zufällige Fund eines Zeitungsartikels aus dem Jahr 1972 im Archiv des LVR-Instituts für Landeskunde und Regionalgeschichte ist Anlass, an einen Bonner Sprachwissenschaftler zu erinnern: Es geht um Josef Müller, der das große Rheinische Wörterbuch quasi im Alleingang "geschrieben" hat, eine heute nahezu unvorstellbare Leistung.

Der Zeitungsartikel des Bonner Generalanzeigers vom 19.4.1972 erinnert an die Vollendung dieses großlandschaftlichen Wörterbuchprojekts im Jahr 1971, fast siebzig Jahre, nachdem der Bonner Niederlandist Johannes Franck von der Deutschen Commission der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1904 des Auftrag zu Erarbeitung eines Wörterbuchs des "Mittelfränkischen" erhalten hatte. Der Rheinländer Josef Müller gehörte von Beginn an zum Team der Wörterbuchkanzlei in der Poppelsdorfer Allee in der Bonner Südstadt. 1875 in Aegidienberg im Siebengebirge geboren, hatte er nach dem Abitur in Bonn studiert und 1900 bei Franck mit einer Arbeit über die Mundart seiner Heimatgemeinde promoviert, die erste Dissertation zu einem mundartliche Thema im Rheinland überhaupt.  

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Josef Müller | © Theo Schafgans, Universitätsarchiv Bonn
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Josef Müller | © Theo Schafgans, Universitätsarchiv Bonn

Schon während seiner anschließenden Oberlehrerzeit in Trier hatte er selbständig damit begonnen, ein moselfränkisches Wörterbuch zu erarbeiten und dafür seine Schüler, die aus allen Teilen des Mosellandes stammten, ständig mit Fragen traktiert. Noch 1964 konnte der Bonner Volkskundler Matthias Zender von "ehrwürdigen Pastoren an der Mosel" berichten, die "von dieser merkwürdigen Beschäftigung in den Schulpausen" erzählen konnten. Und mit seinem Freund Paul Trense, der für ein ähnliches Wörterbuchprojekt am Niederrhein sammelte, hatte er 1905 einen für die damalige Zeit methodisch sehr innovativen "Aufruf zur Sammlung und Erhaltung des Sprachschatzes der rheinisch-fränkischen Mundarten" veröffentlicht.

Es ist deshalb kein Wunder, dass Johannes Franck seinen Schüler sofort zu Beginn der Arbeiten am Rheinischen Wörterbuch hinzuzog und ihn 1907 schließlich aus Trierer Diensten herauskaufte und ihm eine Stelle an einem Bonner Gymnasium besorgte. Es war zu dieser Zeit keineswegs einfach, geeignete Mitarbeiter zu finden, denn an dem Thema "Dialekt" zeigten die Sprachwissenschaftler der Bonner Universität ein auffallendes Desinteresse und Johannes Franck musste sogar feststellen: "Man trifft Studenten, die sich verletzt fühlen, wenn man Kenntnisse der Mundart voraussetzt." Dass es ihm in diesem Umfeld überhaupt gelang, das Wörterbuchprojekt an der Bonner Universität anzusiedeln, erstaunt im Nachhinein, zumal er erst 1912 zum ordentlichen Professor berufen wurde. 

Schon deshalb war die Mitarbeit von Josef Müller, der nach kurzer Zeit dafür vom Schuldienst freigestellt wurde, ein großer Glücksfall für das Projekt. Ohne ihn, so darf man getrost spekulieren, wäre das Wörterbuch kaum zu einem Ende gelangt – oder andersherum, vielleicht gar nicht erst über die Planungsphase hinausgekommen. Denn der ursprüngliche Projektplan macht auch heute noch staunen. Allein das Erhebungsgebiet, die gesamte ehemalige preußische Rheinprovinz von Saarbrücken bis Emmerich mit der wohl kleinräumigsten und variantenreichsten Dialektlandschaft im deutschen Sprachgebiet, war anspruchsvoll genug. Aber das Rheinische Wörterbuch sollte nicht nur den Sprachstand der damaligen Gegenwart (sogar bis hin zu umgangssprachlichen Formen), sondern auch den historischen Bestand erfassen und gleichzeitig die Flurnamen, Personennamen und die Fachsprachen bis hin zu den Krämersprachen dokumentieren.

Mit der Erfüllung dieses mehr als ambitionierten Plans ist unter der Leitung von Johannes Franck auch tatsächlich angefangen worden: "So begannen er selbst und seine Mitarbeiter mit dem Exzerpieren von älteren Quellen, und bis 1914 waren alle bis dahin gedruckt vorliegenden Urkundenbücher, Chroniken und historischen Beträge in Zeitschriften durchgearbeitet. Schon bei dieser Arbeit macht die Fülle des Materials zu schaffen; als man aber an ungedruckte Quellen heranging, wuchs die Aufgabe, die man sich gestellt hatte, ins Riesenhafte," zumal auch "die Sammlung aller gegenwärtigen und urkundlich bezeugten Vor-, Personen-, Orts- und Flurnamen eingeschlossen" war. Dennoch entstanden nach diesem umfassenden Plan nach 1919 "vierzehn Quartbände Manuskript, je 600 Seiten enthaltend und die Buchstaben A-B behandelnd, in denen das Leben jedes Wortes durch zahlreiche urkundliche und aus dem heutigen Leben gegriffene Belegsätze beleuchtet wurde, Volkskundliches gliederte sich…an."

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Zeitungsartikel | © General-Anzeiger Bonn
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Zeitungsartikel | © General-Anzeiger Bonn

Man muss heute rückblickend sagen: Wow, was wäre das für ein wahnsinnig tolles Wörterbuch geworden! Es wäre so etwas wie die eierlegende Wollmilchsau der rheinischen Sprachgeschichte gewesen, das auf alle nur denkbaren Fragen eine Antwort hätte geben können. Doch gerechterweise muss man heute auch sagen: Es ist ein Glücksfall, dass dieses Wörterbuchkonzept unter der Leitung von Josef Müller nie realisiert worden ist – das Wörterbuch wäre mit Sicherheit noch heute längst nicht fertig. Schon vor 1914, dem Todesjahr von Johannes Franck, muss Josef Müller klar geworden sein, dass die ursprüngliche Planung völlig unrealistisch war. Im selben Jahr zum leitenden Redakteur der Wörterbuchkanzlei ernannt, erarbeitete er mit seinen Mitarbeitern ein drastisch abgespecktes Konzept, das auf historische und, bis auf Vornamenformen, alle namenkundlichen Belege verzichtete. Man kann sich gut vorstellen, wie schwer es ihnen gefallen sein muss, das in mühseliger Arbeit erhobene Material im Institutskeller einzumotten.

Nach dieser Revision sollte das Rheinische Wörterbuch nur noch "alle Wörter [enthalten], wie sie im 19. Jahrhundert bis heute in der Mundart geläufig waren oder noch sind," wobei das Wörtchen "nur" an dieser Stelle eine eigentlich schon unverschämte Untertreibung ist. Denn Josef Müller musste einen sich über eine Länge von dreihundert Kilometern erstreckenden Sprachraum dokumentieren, der von niederfränkischen Dialekten im Norden bis zu rheinfränkischen im Süden reichte; er musste das methodische Rüstzeug zur Materialsammlung erarbeiten, freie Mitarbeiter (Exploratoren) anwerben und betreuen, Fragebogen entwerfen und verschicken, gedruckte und handschriftliche Quellen exzerpieren und schließlich die Druckvorlage erstellen. Deshalb erschien er von nun an "Werktag wie Sonntag von 9-14 und von 16-21, oft 22 Uhr in seinem meist verqualmten Arbeitsraum und schrieb Seite um Seite in einer Schrift, die außer dem Setzer nur noch drei Mitarbeiter lesen konnten." Das tat er, ohne Ferien oder Wochenenden, genau 31 Jahre lang. "Seit etwa 1940 konnte er fast nur noch im Bette arbeiten. Aber er blieb unermüdlich, benutzte als Schreibunterlage ein Zeichenbrett und hatte das Material auf Aktenböcken rechts und links von sich. Im Spätsommer 1944 schwanden die Kräfte, mitten in der Arbeit am Buchstaben 'Z'.

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Die handschriftliche Ausfertigung von Josef Müllers letztem Artikel | aus: Rheinische Vierteljahrsblätter 29/1962, S. 216, Abb. 2.
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Die handschriftliche Ausfertigung von Josef Müllers letztem Artikel | aus: Rheinische Vierteljahrsblätter 29/1962, S. 216, Abb. 2.

Als er starb, waren sechs Bände des Wörterbuchs gedruckt, zu den drei folgenden hinterließ er ein handschriftliches Manuskript (das von Heinrich Dittmaier bis 1970 für den Druck bearbeitet wurde). Damit ist das Rheinische Wörterbuch das einzige großlandschaftliche Wörterbuch, das im Grunde aus einer Hand stammt. Denn auch wenn Josef Müller selbstverständlich Helfer hatte und auf über zweitausend freie Mitarbeiter und Zuträger zurückgreifen konnte, kann man ihn doch mit Fug und Recht "Autor" des Rheinischen Wörterbuchs nennen. Wie er es geschafft hat, nur mit Hilfe von Zettelkästen eines der umfangreichsten Wörterbücher zu verfassen, kann man sich in Zeiten von automatischer Datenverarbeitung und Datenbanken nicht mehr vorstellen. Und dennoch ist das Rheinische Wörterbuch notorisch zuverlässig. Es wird in der Sprachabteilung des LVR-Instituts für Landeskunde mehrmals täglich benutzt, und bislang ist kaum eine Lücke gefunden worden. Selbst die Suche nach äußerst seltenen oder gar obskuren Mundartwörtern endet regelmäßig in einem erleichterten Seufzer: "Es steht tatsächlich drin." Das Staunen in der Sprachabteilung über die Leistung Josef Müllers wird wohl nicht aufhören.

Deshalb soll hier auch nicht über offensichtliche Mängel des Projekts diskutiert werden, die sicherlich aus der Zeit seiner Entstehung zu erklären sind und in der Sprachwissenschaft oft genug benannt wurden. Ein Wermutstropfen allerdings darf bei der Erinnerung an Josef Müller und sein Wörterbuch nicht unerwähnt bleiben: Es wird nur sehr selten von denjenigen benutzt, für die es eigentlich geschrieben wurde, die Mundartsprecher:innen im Rheinland. Schon nach den ersten Lieferungen war die Enttäuschung bei "Heimatfreunden und Regionalforschern ausnahmslos. Die vielen Abkürzungen, die phonetischen Zeichen, vor allem aber das fremdartige Stichwort schreckten ab und versiegelten das Buch für Laien." So ist es leider bis heute geblieben. Das ist sehr schade, denn das Rheinische Wörterbuch ist ein Füllhorn an Redewendungen, Sprichwörtern und treffenden Satzbeispielen, kleinen volkskundlichen Abhandlungen und Beschreibungen des alltäglichen Lebens um 1900. Es könnte ein rheinisches Lesebuch sein, wenn es denn einfacher zu benutzen und auch außerhalb der großen Bibliotheken zugänglich wäre.

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... und der gedruckte Artikel im Rheinischen Wörterbuch | aus: RhWb, Band 9, Sp. 744.
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... und der gedruckte Artikel im Rheinischen Wörterbuch | aus: RhWb, Band 9, Sp. 744.

Ein weiterer, immer wieder zu hörender Einwand lautet: Man findet nichts in diesem riesigen Wörterbuchs. Diese Vorwürfe haben seit geraumer Zeit jedoch ihre Berechtigung verloren. Die Universität Trier stellt im Zuge des großen Projekts "Digitaler Verbund von Dialektwörterbüchern" seit 2004 alle deutschen großlandschaftlichen Mundartwörterbücher und andere wichtige Wörterbücher wie das Grimmsche ins Netz. Unter der Adresse http://www.woerterbuchnetz.de kann so auch das Rheinische Wörterbuch von jedermann eingesehen werden - und dank der linksseitigen Laufleiste, die wirklich alle Wortformen verzeichnet, ist das Auffinden der entsprechenden Stichwörter ein Kinderspiel. Deshalb soll diese Erinnerung an Josef Müller gleichzeitig auch die Aufforderung an die Leser:innen sein, sein Wörterbuch in der digitalisierten Variante mit ihren umfassenden Suchfunktionen von nun an intensiv zu nutzen. Die Sprachabteilung des LVR-Instituts für Landeskunde, die im Übrigen ein später Ableger der Wörterbuchkanzlei des Rheinischen Wörterbuchs ist, garantiert Spaß und Aha-Erlebnisse bei der Lektüre. Es wäre schön, wenn sich die ganze Mühe Josef Müllers nun endlich im digitalen Zeitalter doch noch gelohnt haben sollte.

Das gilt auch für die Arbeit der Fachleute in Trier. Denn wie seine Entstehung ist auch die Digitalisierung des Rheinischen Wörterbuchs eine Geschichte für sich, wie man im Rheinland sagt. Wer jemals einen Blick in das Wörterbuch mit seinem äußerst komplizierten Druckbild geworfen hat, dürfte die Beschreibung des dabei verwendeten Verfahrens für eine moderne Wanderlegende halten. Das Wörterbuch mit seinen neun Bänden und 14000 Spalten wurde nämlich komplett in China von Typisten manuell in ein Textverarbeitungsprogramm eingegeben. Dort haben also Menschen einen für sie völlig unverständlichen Text mit seltenen Sonderzeichen, ständig wechselnden Formatierungen und Abkürzungen in einer für sie exotischen Sprache zeichengetreu abgetippt. Und das gleich doppelt, denn erst durch den Vergleich der beiden Versionen konnte in Trier anschließend eine fehlerfreie Endfassung erstellt werden. So verrückt dieses Verfahren auch erscheint, ist damit das Rheinische Wörterbuch fast einhundert Jahre nach Drucklegung der ersten Lieferung endlich für alle Interessierten in einer nutzerfreundlichen Form jederzeit einsehbar. Josef Müller hat das sicherlich noch nicht einmal zu träumen gewagt.