Wenn Sprachen aussterben

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Eine Sprache gilt als tot, wenn sie niemand mehr spricht. Man könnte auch sagen, dass sie bereits tot ist, wenn es nur noch eine:n Sprecher:in gibt, da es keine andere Person gibt, mit der man in dieser Sprache kommunizieren könnte. Bedrohte Sprachen sind Sprachen, die von Kindern nicht mehr als Erstsprache gelernt werden und daher vom Aussterben bedroht sind. Wenn eine bedrohte Sprache nicht dokumentiert wird, ist jedes Wissen über sie für immer verloren, sobald der/die letzte:r Sprecher:in stirbt.

Das Aussterben einer Sprache unterscheidet sich vom natürlichen Sprachwandel. Alle Sprachen sind variabel und unterliegen einem ständigen natürlichen Wandel. Über die Zeit hinweg kann durch den Sprachwandelprozess eine neue Sprachstufe entstehen, wie beim Übergang vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen. Eine Sprache kann sich sogar so stark verändern, dass das, was daraus entsteht, als eine andere Sprache angesehen wird. Beispielsweise führte der Sprachwandel des Lateinischen zur Entstehung der modernen romanischen Sprachen, die noch immer mit dem Lateinischen verwandt sind.

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Kreuz auf einem Friedhof mit der Aufschrift Sprache
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Sprachtod | © Pixabay, bearbeitet

Der Sprachverlust, von dem bedrohte Sprachen betroffen sind, ist dramatischer als der natürliche Sprachwandel. Die Menschen hören zugunsten einer anderen Sprache auf, ihre Muttersprache zu sprechen, und die Muttersprache verschwindet.

Sprachen sind nicht „bedroht“ oder „nicht bedroht“, sondern sie befinden sich auf einem Kontinuum. Der Bedrohungsgrad einer Sprache hängt vor allem von der Weitergabe der Sprache an Kinder ab. Damit verbunden ist das Alter der fließend Sprechenden und ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung. Außerdem ist eine Sprache umso lebendiger, je mehr gesellschaftliche Funktionen sie hat. In Situationen, in denen Sprachen vom Aussterben bedroht sind, wird die traditionelle Sprache typischerweise nur noch im privaten Bereich gesprochen, während in öffentlichen Institutionen wie Schulen, dem Arbeitsplatz oder Behörden die Mehrheitssprache verwendet wird.

In den meisten Fällen ist die Dominanz einer Mehrheitskultur gegenüber einer Minderheitenkultur der Grund für das Aussterben einer Sprache. Häufig besteht ein Ungleichgewicht in Bezug auf Prestige und Macht. Die Angehörigen der Minderheitenkultur geben ihre Sprache auf, um Diskriminierung zu entgehen, berufliche Chancen zu verbessern oder sich an den globalen Markt anzupassen. Viele Sprachgemeinschaften haben solche Situationen erlebt, z.B. die der Ainu, Manx, Sorben oder Quechua. Ihre Sprachen sind heute vom Aussterben bedroht.

Oft werden Sprachen und Kulturen offen politisch unterdrückt, und Regierungen versuchen, durch Assimilierung eine so genannte „nationale Einheit“ zu erreichen. Dabei werden Menschen aktiv gezwungen, ihre traditionelle Sprache zugunsten einer Landessprache aufzugeben. Dies war der Fall bei heute bedrohten Sprachen der amerikanischen indigenen Völker, bei Kurdisch oder Walisisch.

Sprachgemeinschaften selbst können durch Naturkatastrophen oder Völkermord in Lebensgefahr geraten oder ihr Lebensraum kann zerstört werden. Ereignisse, bei denen Sprachen auf diese Weise Sprecher verloren haben, sind Erdbeben (im Fall von Malol, Papua-Neuguinea), Tsunamis (Andamanen), Völkermord durch Kolonisten (Tasmanien) und mehr.

Der Bedrohungsgrad einer Sprache bestimmt, welche Maßnahmen man zu ihrer Wiederbelebung ergreifen kann. Beispielsweise hängt von der Sprecheranzahl ab, ob Maßnahmen in Schulen durchgeführt werden. Bei der Revitalisierung einer Sprache wird versucht, die Sprecherzahlen zu erhöhen, die Einstellungen der Gemeinschaft zu ändern und die Anwendungsbereiche der Sprache auszuweiten. Die effektivsten Programme beruhen auf völliger Immersion, d.h. es wird nur die bedrohte Sprache gesprochen. Ein Beispiel für ein erfolgreiches Revitalisierungsprogramm ist das Language-Nest-Programm der Māori in Neuseeland. Hier werden Angehörige der älteren Generation in Vorschulen eingesetzt und bringen jungen Kindern die Sprache in völliger Immersion bei.

Eine vollständige Revitalisierung einer früheren Sprachform ist oft sehr schwierig – wenn nicht unmöglich – und wenig zielführend. Finanzielle Mittel, politische Unterstützung, die Einstellungen der Sprechergemeinschaft zu ihrer Sprache und die Bereitschaft, diese mit der dominanten Mehrheitskultur zu teilen, spielen eine Rolle. In jedem Fall ist ein Revitalisierungsprogramm nur sinnvoll, wenn es sich um eine bedrohte Sprache handelt, und nicht etwa um einen natürlichen Sprachwandelprozess. Statt einer starren Revitalisierung älterer Sprachformen ist ein offener, flexibler Umgang mit der individuellen sprachlichen Situation gefragt, der der Realität Rechnung trägt.

Sprachvarietäten wie Dialekte tragen ebenfalls dazu bei, Identitäten zu stärken und Bräuche lebendig zu halten. Von bedrohten Sprachen kann man bei Dialekten zwar nicht sprechen (wo ein Dialekt endet und wo eine Sprache beginnt, können Sie hier nachlesen). Allerdings leben und kommunizieren die Sprachgemeinschaften im Rheinland heute anders als noch vor einigen Jahren. Im 19. und 20. Jahrhundert kam es zu einem umfassenden Dialektschwund. Die Gründe für den Dialektschwund waren der große Zustrom von Flüchtlingen und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg, die Globalisierung und die Mobilität der heutigen Bevölkerung. Das Hochdeutsche ist als dominante Sprachvarietät allgegenwärtig. Die Zahl der Dialektsprecher:innen ist stark gesunken, und der Regiolekt hat sich etabliert. In einigen Teilen von NRW wie dem Ruhrgebiet oder Ostwestfalen ist der Dialektschwund bereits vollständig vollzogen.

Eine Sprache – oder ein Dialekt – ist, wie alle Aspekte der Kultur, so lange relevant, wie die Lebenden sich mit ihr verbunden fühlen, im Sinne von Zuneigung, Verantwortung und Motivation. Sie existiert so lange weiter, wie sich Menschen an sie erinnern, sie schätzen, sich nach ihr sehnen oder versuchen, sie zu benutzen.