Warum heißt es „Muttersprache“?
Wie so oft beginnen wir damit, der Geschichte des Wortes zu folgen. Im 16. Jahrhundert wurde Muttersprache aus dem mittelniederdeutschen mōdersprāke entlehnt. Zuvor war im niederdeutschen Raum auch moder tunge (‚Mutterzunge‘) im Gebrauch. Die niederdeutsche Form ist eine Lehnübersetzung des mittellateinischen lingua materna, wörtlich ‚mütterliche Sprache‘. Im Mittelalter schrieben europäische Gelehrte ihre Texte auf Latein, der lingua latina, die auch nur ihresgleichen zugänglich war. Der Rest der Menschen sprach größtenteils so, wie sie es von klein auf gelernt hatten. So entstand die Unterscheidung zwischen Muttersprache und Latein, welches zu diesem Zeitpunkt keine Muttersprachler:innen mehr hatte.
Die Muttersprache ist also die Sprache, die ein Mensch von frühester Kindheit an gelernt hat, in der er sich am besten ausdrücken kann, die ein Zuhause für ihn ist. Immerhin können ungeborene Kinder etwa ab der 23. Schwangerschaftswoche hören, vor allem die Stimme ihrer Mutter, aber auch Geräusche aus der Umgebung. Auf diese Weise macht sich das Kind schon vor der Geburt mit den Klängen seiner Muttersprache vertraut – oder etwa nicht?
Obwohl die Mutter in vielen Fällen eine der wichtigsten Bezugspersonen eines Kindes ist, vielleicht sogar die Bezugsperson, hat Muttersprache Konnotationen, die nicht immer zutreffen. Zum Beispiel gibt es zahlreiche Regionen auf der Erde, in denen Menschen im Alltag mehrere Sprachen sprechen. Ein Kind, das hier geboren wird, hört bereits früh eine ganze Reihe Sprachen. Vielleicht spricht ein Elternteil eine Sprache mit einem Kind, der andere Elternteil eine andere. Hier spricht man von zwei „Muttersprachen“, obwohl nicht beide Elternteile eine Mutter sein müssen, aber durchaus können. Andere Kinder wachsen ohne Mutter auf, stattdessen lernen sie ihre erste Sprache(n) von anderen Menschen.
Mit dem Begriff Muttersprache verbinden die meisten Menschen außerdem, dass man diese perfekt beherrscht. Auch das muss nicht immer zutreffen. Zum Beispiel könnte ein in Deutschland lebender Jugendlicher, dessen Familie zu Hause eine andere Sprache spricht, Schwierigkeiten damit haben, mathematische Prozesse in dieser Sprache zu beschreiben, weil ihm das Vokabular fehlt. Oder jemand hat seit langer Zeit die Sprache, die er bereits als kleines Kind gelernt hat, nicht verwendet und kann auch Familienmitgliedern nicht mehr in dieser Sprache antworten, sondern nur auf der Sprache, die ihn meistens umgibt. Nicht zuletzt drängt sich wieder die Frage auf, wo die Grenze zwischen Sprache und Dialekt verläuft (siehe Wo endet ein Dialekt und wo beginnt eine Sprache?). Ist die Muttersprache einer Person, die in der ländlichen Pfalz aufgewachsen ist, Pfälzisch, Deutsch oder beides?
Diese Ungenauigkeiten sind aber kein Grund, das Wort Muttersprache nicht mehr zu verwenden. Es ist in unserem Sprachgebrauch etabliert und deckt in den meisten Situationen genau das Bedeutungsspektrum ab, das gefordert wird. Manchmal wird in einem persönlichen Gespräch deutlich, dass ein individueller sprachlicher Hintergrund komplexer ist als Muttersprache impliziert. Und so schließt sich der Kreis: Sprache ist individuell und untrennbar mit der eigenen Identität verknüpft.