„Dat Portal“ op Jück: Hausnamen im hessischen Hinterland

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Das hessische Hinterland – das tatsächlich so heißt und hier kein Spottname für eine abgelegene Region ist – umfasst heute den Altkreis Biedenkopf und damit in etwa das Gebiet zwischen den Städten Dillenburg, Wetzlar, Gießen und Marburg in Mittelhessen. Historisch gehörte der Bereich zur Landgrafschaft Hessen-Darmstadt, war von dieser aber fast vollständig isoliert und kam so zu seinem Namen. Sprachgeographisch befinden wir uns hier im Zentralhessischen, im Norden des Hinterlands beginnt das Übergangsgebiet zum Nordhessischen. Die Dialekte der Region werden insbesondere von der älteren Generation noch im Alltag gesprochen, dies unterscheidet das ländlich geprägte Hinterland beispielsweise vom städtischen Raum rund um Frankfurt im Süden Hessens.

Doch die regionale Sprache ist im Hinterland nicht nur zu hören, sie ist auch zu sehen. In vielen Dörfern sieht man an Häusern Schilder mit – für viele Außenstehende wohl schwer verständlichen – Wörtern wie Lawersch, Henches, Orms oder Owwe-Goarde. Hierbei handelt es sich um Hausnamen, ein dorfinternes Benennungssystem, das früher in vielen Regionen des deutschen Sprachraums verbreitet war, heute aber nur noch selten genutzt wird.

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Historische Karte des Hessischen Hinterlands

Hausnamen können in Mittelhessen seit dem 16. Jahrhundert nachgewiesen werden, wobei nicht alle heute noch bekannten (und verwendeten) Namen so alt sind. Doch wie sind diese Namen entstanden, warum waren sie nötig? Ihr Ursprung geht auf eine Zeit zurück, in der viele Menschen einer Ortsgemeinschaft den gleichen Vornamen trugen, bei den Männern war beispielsweise Johannes sehr beliebt, bei den Frauen Elisabeth oder Katharina. Und auch die Familiennamen kamen innerhalb eines Dorfes oft mehrfach vor. So konnte es passieren, dass zu einem Zeitpunkt mehrere Menschen mit gleichem Vor- und Familiennamen in einem kleinen Ort lebten. Doch sowohl für rechtliche Belange wie die Erhebung von Steuern als auch für das alltägliche Miteinander war es nötig, Personen eindeutig identifizieren und benennen zu können (Monoreferenz). Auch war so die direkte Zuordnung zu einer Hausgemeinschaft möglich, eine soziale Gruppe, die zu dieser Zeit eine große Relevanz hatte. Der Hausname war somit indentitätsstiftend. So begann man, den einzelnen Häusern bzw. den Hausgemeinschaften, die in einem Haus lebten, einen weiteren Namen zu geben. Dieser konnte beispielsweise

  • vom Vornamen der Hauserbauer/ersten Bewohner (Oarms und Adams von Adam, Ottos von OttoDinjels von Daniel, Marillis von Maria Elisabetha, Kalles von Karl) oder 
  • vom Familiennamen der Hauserbauer/ersten Bewohner (Klinn von Balthasar Klein, Scherersch von Johannes Scherer, Schelds von Carl Scheld) abgeleitet sein, 
  • auf eine Berufsbezeichnung zurückgehen (Schullehrersch ‚Lehrerwohnung‘, Schustersch ‚Schuster‘, Schneirersch ‚Schneider‘) oder 
  • auf den Standort oder eine Besonderheit des Hauses Bezug nehmen (Enne ‚die am (Dorf)Ende wohnen‘, Dehewwern ‚die da drüben, auf der anderen Seite des Wassers wohnen‘, Uwwe-Goarde ‚oben im Garten‘) oder 
  • eine Kombination aus diesen Benennungsmotiven (Fatthannes ‚Standort an einem Wasserlauf mit Teich (Fatt) + Vorname Johannes) sein.
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Haus mit einem Schild, auf dem der Hausname Scheyern steht
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Haus mit dem Namen "Scheyern" in Breidenbach-Achenbach | © Charlotte Rein, LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte

So konnte für jede Person unterschieden werden, wie man heißt (Vorname), wie man sich nennt (Hausname) und wie man sich schreibt (Familienname). Genau wie Familiennamen waren Hausnamen vererbbar, ein Kind der Familie trägt automatisch auch den Hausnamen. Zog ein erwachsenes Kind allerdings aus und baute ein neues Haus im Ort, bekam dieses einen eigenen Namen, manchmal in Anlehnung an den seiner Herkunftsfamilie (z.B. Wesse Ottos ‚auf der Wiese des Hauses Ottos‘, Welle Reiner ‚Hausname des Geburtshauses + Vorname des Erbauers‘). In jüngerer Zeit (d.h. Mitte des 20. Jhs.) konnte es aber auch vorkommen, dass der Hausname der Herkunftsfamilie „mitgenommen“ wurde. 

Inwiefern dies alles heute noch zutrifft oder ob das Anbringen von Schildern mit Hausnamen als „Folklore“ zu bewerten ist und nur deren Erinnerung dient, muss noch umfangreicher erforscht werden. Eine Studie zum aktuellen Gebrauch und zur Kenntnis von Hausnamen in Großseelheim bei Marburg (vgl. Fischer/Krapp/Zonker 2021) macht aber deutlich, dass es durchaus Orte gibt, in denen das Referenzsystem noch lebendig ist. Die Ergebnisse zeigen, dass die Bekanntheit der Namen zwar über die Generationen abnimmt, dass das System aber generell noch stabil ist. Von den befragten dialektkompetenten (meist älteren) Ortsbewohner:innen verwenden fast alle Hausnamen noch im Alltag, aber auch 60% der (meist jüngeren) Teilnehmenden ohne Dialektkompetenz geben an, sie zu benutzen. Ob das Hausnamensystem eines Ortes noch verwendet wird oder nicht, scheint unter anderem davon abhängig zu sein, wie eng vernetzt die örtliche Gemeinschaft ist.

Ein Problem, das die beschriebenen Schilder mit sich bringen und das durchaus zu Diskussionen in den Dorfgemeinschaften führen kann, betrifft die Schreibung der Namen. Dialekte haben – im Gegensatz zur normierten Standardsprache – keine festgelegte einheitliche Schreibung. Wenn Dialekte verschriftlicht werden, tut jede:r das so, wie es der eigenen Wahrnehmung der Aussprache am nächsten kommt. Da die dialektalen Laute teilweise vom hochdeutschen Lautinventar abweichen, ist die Wiedergabe mit unseren lateinischen Buchstaben(kombinationen) nicht immer eindeutig möglich. Diese Schwierigkeit betrifft auch die Hausnamen. Sie wurden und werden in erster Linie mündlich gebraucht und sind auch nicht immer schriftlich überliefert. Ihre Lautung ist dialektal, nicht standardsprachlich. So gibt es keine feste Schreibweise, jeder Haushalt, der ein Schild in Auftrag gibt, entscheidet selbst, wie der Name darauf geschrieben wird. Schreibt man zum Beispiel den auf den Beruf des Hirten zurückgehende Hausnamen in Eschenburg-Simmersbach nun Hötte, Hette oder Hätte? Und den Hausnamen aus Breidenbach-Achenbach Scheyern oder Scheiern (geht entweder auf die markante Scheune oder auf den Beruf der ersten Bewohner zurück)? Darüber mag die Nachbarschaft diskutieren und verschiedene Meinungen haben, ein einfaches Richtig oder Falsch gibt es in diesem Fall nicht.

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Zettel mit einer Einladung zum Public Viewing im Haus "Wanersch"
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Hausname "Wanersch" auf einem Aushang von 2024 | © Charlotte Rein, LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte