Frühneuhochdeutsche Diphthongierung

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Unter einem Diphthong (griech. dí-phthongos ‚Doppellaut‘) versteht man eine Vokalfolge aus zwei Vokalen in der gleichen Silbe, zum Beispiel in "Einbaum". Ein einzelner Vokal in einer Silbe ist dementsprechend ein Monophthong (griech. monó-phthongos ‚einzeln tönend‘). Den Lautwandel, in dem ein Monophthong zum Diphthong wird, nennt man „Diphthongierung“.

Die frühneuhochdeutsche Diphthongierung war ein langer Prozess, der nicht überall in den deutschsprachigen Regionen gleich verlaufen ist. Davon betroffen waren auch nicht alle einfachen Vokale der mittelhochdeutschen Sprache, sondern nur die Vokale /i:/, /u:/, /y:/ (geschrieben <i>, <u>, <u/iu>). Sie wurden durch die Diphthongierung zu /ae/, /ao/, /ɔe/ (frühnhd. geschrieben <ei/ai/ey>, <au/aw>, <eu/ew/aͤu>), sodass mhd. mîn nieuwez hûs nhd. mein neues Haus entspricht.

In südbayerischen Schriften des 12. Jh. kann man bereits sehen, dass Wörter, die zuvor mit einem Monophthong geschrieben wurden, nun einen Diphthong enthielten. Auch Gedichte verraten uns, wie man bestimmte Worte ausgesprochen haben muss. Aus dem 13. Jahrhundert ist der Reim zît - geleit in Bayern belegt. Von dort aus breitete sich die Diphthongierung weiter aus, sodass sie bis zum 16. Jh. weitflächig nachzuweisen ist. 

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Die Diphthongierung breitete sich vom Südosten weitflächig aus.
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Die Diphthongierung breitete sich vom Südosten weitflächig aus.

Wenn in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Urkunden keine Diphthonge geschrieben werden, heißt das aber nicht zwingend, dass diese nicht in der gesprochenen Sprache vorkamen, da der Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Sprache in der frühen Neuzeit noch größer war als heutzutage. Auch der gegenteilige Fall konnte eintreten, nämlich dass Diphthonge die Schriftsprache erreichten, aber nicht die gesprochene Sprache, so wie es im Rheinland der Fall war. In Texten ab dem 16. Jahrhundert finden sich schriftliche Belege für Diphthonge, etwa Haus, obwohl man im Dialekt damals wie heute _hus _sagte. Neben dem Niederdeutschen und Ripuarischen vollzogen auch das Nordhessische, Westthüringische und Alemannische die frühneuhochdeutsche Diphthongierung nicht. Hier gibt es seit dem 16./17. Jahrhundert nur die sogenannte Hiatusdiphthongierung und die Auslautdiphthongierung. Unter einem Hiatus versteht man in der Sprachwissenschaft das Auftreten von zwei Vokalen in aufeinanderfolgenden Silben, so wurde mhd. schrîen zu schreien. Die Auslautdiphthongierung führte dazu, dass man nicht mehr wie im mhd.  sagte und schrieb, sondern bei.

Im Mittelhochdeutschen gab es jedoch schon vor diesen neuen Diphthongen vokalische Doppellaute, von denen drei mit den neu entstandenen identisch sind, nämlich <ei>, <ou> und <öu>. Dieser Zusammenfall der Vokalreihen hatte zur Folge, dass einige Wörter, die im Mittelhochdeutschen noch unterschiedlich ausgesprochen wurden, gleich klangen, also homonym wurden. Einer dieser Fälle ist wîde (Baumart) und weide (Futtergrasfläche), die wir heute beide als "Weide" bezeichnen.

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Zu Luthers Zeiten waren die neuen Diphthonge schon weit verbreitet. © Lucas Cranach der Ältere, gemeinfrei
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Zu Luthers Zeiten waren die neuen Diphthonge schon weit verbreitet. © Lucas Cranach der Ältere, gemeinfrei