Georg Cornelissen

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„Ein Mann des Wortes“ – so lautete der Titel einer Pressemitteilung, die der Landschaftsverband Rheinland 2021 veröffentlichte, als Dr. Georg Cornelissen den LVR nach 36 Dienstjahren in den wohlverdienten Ruhestand verließ (dazu, wie ruhig bzw. unruhig der Ruhestand ist, später mehr). So intensiv wie wenige andere Dialektolog:innen hat der gebürtige Niederrheiner die Sprach- und Namenwelt zwischen Bonn und Emmerich erforscht, beschrieben und ihre Eigenheiten und Besonderheiten an all jene weitervermittelt, die seine Begeisterung teilen. Das heutige Gespräch ist für ihn ein Heimspiel. Wir treffen uns in der Bibliothek des Sprachteams im LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte (ILR) in Bonn. Hier hat Georg Cornelissen viele Stunden seines Arbeitslebens verbracht – recherchierend, lesend oder über einen neuen Sprachkarten-Entwurf grübelnd. Diese Bibliothek ist in Nordrhein-Westfalen vielen Menschen durch die WDR-Lokalzeit bekannt. Samstagabends erklärt der Sprachforscher regelmäßig vor diesem Hintergrund regionale Wörter und Redewendungen.

Sprachvielfalt am Niederrhein und darüber hinaus

Doch begonnen hat Georg Cornelissens Sprachliebe nicht erst in seiner Wahlheimat Bonn, sondern viele Jahre früher in seinem Heimatdorf Winnekendonk am unteren Niederrhein. Schon früh fällt dem Sohn eines niederrheinischen Vaters und einer schlesischen Mutter auf, dass die Menschen um ihn herum unterschiedlich sprechen: „Es gab Menschen, die sprachen Platt, und Menschen, die sprachen kein Platt, aber diese anderen Menschen sprachen nicht immer Hochdeutsch und das war ganz deutlich.“ Und er beobachtet, dass Sprache situationsabhängig ist, dass ein und derselbe Mensch auf dem Fußballplatz anders spricht als in der Schule (zumindest, wenn er gute Noten bekommen wollte): „Wer auf dem Fußballplatz Hochdeutsch gesprochen hätte, der wäre ausgelacht worden. Es sprach zwar keiner mehr Platt, aber man sprach Alltagssprache, Umgangssprache, Regiolekt. Dat und wat war gang und gäbe.“

Das Interesse für die Sprachvarietäten um ihn herum bleibt bestehen und so beginnt Georg Cornelissen in den 1970er Jahren ein Studium der Fächer Germanistik, Geschichte und Niederlandistik an den Universitäten Bonn und Köln, eigentlich mit dem Ziel, Lehrer zu werden. Doch insbesondere die komplizierte Sprachgeschichte des Niederrheins fasziniert ihn so sehr, dass er nach dem ersten Staatsexamen eine Doktorarbeit hierzu verfasst. Im Anschluss verlässt er die Universität für das Schul-Referendariat, doch eine Stellenausschreibung am damaligen Amt für rheinische Landeskunde (heute: Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte) bringt ihn 1985 zurück zu den rheinischen Dialekten. Das Besondere an dieser Arbeitsstelle: Neben der wissenschaftlichen Erforschung der Sprachlandschaft Rheinland ist Georg Cornelissen gemeinsam mit seinen Kolleg:innen für die Vermittlung der Themen an eine breite Öffentlichkeit zuständig. Statt im Klassenraum steht er nun auf den unterschiedlichsten Bühnen des Rheinlands, mal vor 20 Leuten, mal vor 700. Was immer gleich bleibt, ist die Begeisterung, mit der der Sprachforscher über Dialekte, Regiolekte und regionale Namen spricht. „Von mir aus können da auch 1.500 [Zuhörende] sein. Ich mag das!“, sagt er über seine umfangreiche Vortragstätigkeit.

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Georg Cornelissen | © Nina Gschlößl
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Georg Cornelissen | © Nina Gschlößl

Das Wissen, das er in seinen Vorträgen, aber natürlich auch in seinen Artikeln und in zahlreichen Büchern vermittelt, entstammt nicht nur seinem Sprachgefühl und seinem offenen Ohr. In vielen Fragebogenrunden hat Georg Cornelissen tausende Menschen im Rheinland zu ihrem Dialekt und zu ihrem Regiolekt befragt. Laute, Wörter, Grammatik – alle sprachlichen Ebenen nimmt er in den Blick. Die Ergebnisse werden systematisiert, beschrieben und auf Sprachkarten dargestellt. „Wenn ich neue Fragebogen kriege, dann brauche ich nichts anderes mehr, dann reichen mir die Fragebogen“. Viele dieser Sprachkarten, die im Verlauf der Jahre zu einem Markenzeichen der LVR-Sprachforschung geworden sind, können hier eingesehen werden. Die Karten sollen einprägsam sein und den Betrachtenden eine Orientierung geben: Wo sprechen die Menschen wie ich und wo anders? Einige Wörter haben sie vielleicht schon mal gehört, andere erweitern die „sprachliche Landkarte“, die viele Menschen im Kopf haben. Ermöglicht werden die Sprachkarten nur durch die vielen Rheinländer:innen, die an den Befragungen, Interviews und Gesprächen teilnehmen und ihre Sprache und ihr Sprachwissen mit den Forschenden teilen. Georg Cornelissen hat immer eine große Hilfsbereitschaft und ein großes Interesse aus der Bevölkerung erfahren: „Die Menschen haben das Gefühl, dass wir uns für sie und ihre Sprache einsetzen. Das war das Schöne. Deshalb machen sie auch gerne mit.“

Eine weitere Besonderheit von Georg Cornelissens dialektologischer Arbeit ist seine grenzübergreifende Perspektive. Denn nicht immer sind Landesgrenzen auch Sprachgrenzen. Niederländische, belgische und deutsche Dialekte entlang der NRW-Grenze sind eng miteinander verwandt, es gibt viele lautliche, grammatische und lexikalische Ähnlichkeiten. Diese hat der Sprachforscher in vielen Projekten, oft auch gemeinsam mit Kolleg:innen aus den anderen Ländern, untersucht. So beispielsweise für den „Dialektatlas Westmünsterland – Achterhoek – Liemers – Niederrhein (DWALN)“, der inzwischen auch hier auf „Dat Portal“ online zugänglich ist.

Sprachwandel vor eigenen Augen und Ohren

36 Dienstjahre sind eine lange Zeit und im Rheinland (wie auch in weiten Teilen des restlichen Deutschlands) fielen sie aus Perspektive der Dialektologie in eine besonders spannende Zeit. Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Dialekte noch die alltägliche Sprache der meisten Menschen sind, ändert sich die Situation nach dem zweiten Weltkrieg. Zunehmend wird der Dialekt nicht mehr an die nächste Generation weitergegeben. Doch das nun meist gesprochene Hochdeutsch ist keineswegs frei von Regionalität: Mal mehr, mal weniger ist es durch dialektale und regionale Laute und Wörter geprägt. Genannt wird diese Sprechweise Regiolekt, regionale Umgangs- oder Alltagssprache. „Ich konnte ja wirklich zugucken“, sagt Georg Cornelissen heute über diesen Sprachwandel. Dass dieser Umbruch in der breiten Öffentlichkeit so wenig wahrgenommen und thematisiert wird, verwundert ihn bis heute: „Es wurde nie zu einer gesellschaftlichen Frage.“ Er selbst hat diesen tiefgreifenden Wandel und dessen Folgen in seinem Buch „Meine Oma spricht noch Platt“ beschrieben. Auch den Dialektsprechenden fällt der veränderte Sprachgebrauch natürlich auf. In vielen Orten des Rheinlands nehmen daher ab den 1980er Jahren Wörterbuchprojekte zu. Vereine oder Einzelpersonen wollen den Wortschatz, und teilweise auch die Grammatik, ihres Dialekts dokumentieren, um ihn vor dem Vergessen zu bewahren. Gemeinsam mit Fritz Langensiepen und Peter Honnen betreut Georg Cornelissen zahlreiche solcher Projekte und unterstützt die Veröffentlichung der Bücher. Das umfangreichste Projekt, das er dabei begleitet, ist das Grefrather Wörterbuch von Herbert Ackermann. Die Bearbeitung dauert 16 Jahre und das fertige Werk umfasst über 2.000 Seiten. Auch über die Wörterbucharbeit hinaus ist eine oft gestellte Frage an den Sprachforscher, wie man den Dialekt „wiederbeleben“, vielleicht sogar „retten“ könne. Sein liebster Tipp: „Bildet Selbsthilfegruppen!“. Und zwar für die Menschen, die den Dialekt noch passiv beherrschen, also verstehen können, aber ihn nicht aktiv sprechen. Würden sie alle ein bisschen üben und dann plötzlich im Alltag mit Familien, Nachbarn und Freund:innen Mundart sprechen, käme das einem „Pfingstwunder“ gleich, so Georg Cornelissen. Wirklich realistisch ist diese Idee aber wohl nicht.

Georg Cornelissen und seine Kolleg:innen im LVR-ILR stellt die veränderte Sprachrealität vor eine Herausforderung und bringt eine Wende in ihr Arbeitsleben. Neben den „alten“ Dialekten gilt es nun auch die vielfältige regionale Alltagssprache zu erforschen. Auch hierfür etabliert er den Sprachfragebogen als Erhebungsinstrument und er kann bald erste Regiolektkarten zeichnen. Denn viele seiner jahrelangen Gewährspersonen geben auch gerne über diese Sprachvarietät Auskunft und beweisen oft ein sehr gutes Sprachgefühl, mit dem sie zwischen Dialekt, Regiolekt und Hochdeutsch unterscheiden können. Auch neue Teilnehmende kann er gewinnen, insbesondere die Sicht der jüngeren Menschen interessiert ihn. Und so stellt er sich viele Jahre nach seinem Referendariat wieder vor Schulklassen, erzählt von der Sprache im Rheinland und lässt zahlreiche Fragebogen ausfüllen. Aber nicht nur inhaltlich, auch technisch hat sich die Welt in diesen 36 Jahren stark verändert. Neben den Buchpublikationen beginnen Georg Cornelissen und Peter Honnen in den 2000er Jahren zunehmend eine digitale Präsentation ihrer Arbeit. So entsteht beispielsweise eine „Sprechende Sprachkarte“, auf der zahlreiche Dialektaufnahmen aus dem Rheinland zu hören sind.

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Georg Cornelissens "Abschiedswerk" im LVR-ILR | © Greven Verlag
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Georg Cornelissens "Abschiedswerk" im LVR-ILR | © Greven Verlag

Sprachwissenschaftlicher (Un-)Ruhestand

Seit über drei Jahren ist Georg Cornelissen inzwischen im Ruhestand. Sprachforschung betreibt er aber weiterhin. Er hält Vorträge, ist im WDR zu hören und sehen und schreibt Bücher. Sein aktuelles Buchprojekt wird „Erinnerungen an das alte Dorf und seine Sprache“ heißen. Es ist ein Versuch, den Sprachgebrauch eines Dorfes während der Kaiserzeit (1871–1981) lebendig werden zu lassen. Eine intensive Quellenarbeit war nötig, um ein realistisches Bild von dieser Zeit, in der der Dialekt noch die Hauptsprache der Menschen im niederrheinischen Dorf war, zeichnen zu können. Doch Georg Cornelissen hat Glück: Gerade aus seinem Heimatdorf Winnekendonk, in dem seine Begeisterung für die regionale Sprache ihren Anfang nahm, gibt es besonders viele Überlieferungen.