Fritz Langensiepen

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Zu „zeigen, was in so einer Mundart drinsteckt“ – diese Motivation treibt den Sprachwissenschaftler und Dialektforscher Fritz Langensiepen bis heute an. Mit dem Ziel, herauszufinden, was das Rheinland ausmacht, untersuchte er ab 1979 intensiv regionale Sprache im LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte (ILR, ehemals Amt für rheinische Landeskunde). Während er die Sprachabteilung aufbaute, setzte er sich als Abteilungsleiter der Sprachabteilung und später auch als langjähriger Institutsleiter für das Sammeln und für die Weitergabe von Wissen über Mundarten ein.

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Sprachwissenschaftler und Dialektforscher: Fritz Langensiepen | © LVR-ILR
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Sprachwissenschaftler und Dialektforscher: Fritz Langensiepen | © LVR-ILR

Ein Gespür für Sprache

Sein Interesse an der Sprache entdeckte Fritz Langensiepen schon in seiner Kindheit. Im Hunsrück aufgewachsen, stellte er fest, dass seine Verwandten, die etwas östlicher im Hunsrück wohnten, anders sprachen als die Leute in seinem Ort. Er betrachtete aufmerksam gesprochene Sprache und versuchte Gründe für die spannenden Variationen zu finden. Er erinnert sich: „Der Unterschied war, wir sagten dat und wat und die sagten das und was“, und erkannte damit schon früh die dat/das-Linie, die die Dialektgebiete Moselfränkisch und Rheinfränkisch voneinander unterscheidet.

Als er in seiner Jugend, nach dem Umzug vom Hunsrück nach Bonn, das Buch „Gedichte in Hunsrücker Mundart“, geschrieben von Peter Joseph Rottmann, von einem Nachbarn geschenkt bekam, wurde sein Interesse an Mundart als Heimatsprache gestärkt und er setzte sich intensiver mit regionaler Sprache auseinander. Schließlich entschied sich Fritz Langensiepen dazu, Germanistik, Geschichte und Sprachwissenschaft in Bonn zu studieren.

Sprachforschung gemeinsam mit den Menschen

„Mundart ist über Jahrhunderte in mündlicher Tradition überliefert worden“, berichtet Fritz Langensiepen. In seiner Kindheit wurde Dialekt noch als Alltagssprache verwendet und erst mit der Einschulung lernten Kinder Standarddeutsch zu sprechen. Die Verwendung von Dialekt ging immer mehr zurück und Sprecher:innen erkannten „die Notwendigkeit […], Mundart in irgendeiner Weise festzuhalten“. In den 1980er Jahren machte sich der Sprachwissenschaftler zum Ziel, den aktuellen Stand von Mundarten im Rheinland zu dokumentieren, um Wissen zu konservieren und Sprachvergleiche über längere Zeit zu ermöglichen.

Doch wie dokumentiert man eigentlich gesprochene Sprache? Eine Möglichkeit, das Wissen zu sammeln, ist, lokale Mundartwörterbücher zu erstellen. Das funktioniert nur in Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort, denn sie sind diejenigen, die die Mundarten sprechen. Reine Wortlisten zu erstellen reicht dabei nicht aus. Fritz Langensiepen erklärt: „Mundart, wie Sprache überhaupt, lebt ja aus den Zusammenhängen.“ Man muss „über diese Wortebene rauskommen“ und für die Bedeutung eines Wortes ein typisches Gebrauchsbeispiel nennen. Wenn ein Wort mehrere Bedeutungen hat, müssen zum Verständnis mehrere Beispiele genannt werden. „Der Ansatz war ja wirklich, authentisch zu dokumentieren und das so festzuhalten, dass andere da was mit anfangen können.“ Er betreute verschiedene Wörterbuchprojekte, wie zum Beispiel den Bonn-Beueler Sprachschatz, geschrieben von Johannes Bücher. Fritz Langensiepen war nicht nur das Sammeln von Wissen wichtig, sondern auch, wie man es an die Menschen zurückgeben kann. Er stellte sich die Frage: „Wie kann ich die Mundart ins Bewusstsein der Leute bringen?“. Ganz klar: Die Zusammenarbeit mit den Medien war dabei notwendig, denn so erreicht man ein breites Publikum.

Ein weiteres großes Projekt von Fritz Langensiepen war eine Publikation in den 1980er Jahren mit dem Titel Das rheinische Platt. In dem Buch sind 500 Mundartbeiträge aus 341 verschiedenen Orten zusammengetragen. Dafür fuhren Fritz Langensiepen und seine Kolleg:innen mit dem Auto los, um vor Ort in der ehemaligen Rheinprovinz Sprachaufnahmen von Mundartsprecher:innen zu machen. In Geschäften, in der Stadtverwaltung, in Nachbarorten und in Mundartgruppen fragten sie nach Sprecher:innen, um sich so ein Netzwerk aufzubauen. Die Bereitschaft, bei den Aufnahmen mitzumachen, war groß. Die Sprachaufnahmen wurden dann nach einem lautschriftlichen Regelwerk transkribiert und im Buch nach Orten sortiert. Dieses Werk stellt als Konservierungs- und Sammelarbeit eine Bestandsaufnahme der Alltagssprache aus dieser Zeit dar.

Was die Mundart kann

Das Buch Das rheinische Platt veranschaulicht nicht nur die Vielfalt sprachlicher Variation, sondern auch, wie sich die Sprachlandschaft seither verändert hat. In dem Buch befindet sich ein Text zum Thema „Mein erster Schultag“ von Pastor Gerhard Siebers vom Niederrhein (abspielbar auf der Sprechenden Sprachkarte). Darin berichtet er, dass zu Schulbeginn noch keines der Kinder Hochdeutsch sprechen konnte. Fritz Langensiepen fiel schon früh auf, dass wenn die Lehrkraft kein Platt sprechen konnte, der Sprachbezug zu den Kindern fehlte. Deshalb bot er vor seiner Zeit am ILR an der Pädagogischen Hochschule in Köln ein Seminar zum Thema „Mundart in der Schule“ an. Viele Studierende besuchten die Veranstaltung, denn Herr Langensiepen war damals der Einzige an der Hochschule, der einen solchen Kurs anbot. Ziel war es, dafür zu sensibilisieren, dass das, was nach sprachlichen Fehlern der Kinder aussieht, eigentlich nur systematische Variationen von Sprache sind, die den sprachlichen Hintergrund der Kinder widerspiegeln. Denn in den 1970er Jahren war die Ansicht weit verbreitet, dass Kinder nur Standardsprache und keine Mundart lernen sollten, um ihre beruflichen Chancen zu erhöhen. Das hat dazu beigetragen, dass es heutzutage weniger Dialektsprecher:innen gibt. Daran konnte auch die in den 1980er Jahren aufkommende „Dialekt-Renaissance“ nichts mehr ändern. Diese vermehrte Auseinandersetzung mit dem Dialekt führte zwar z. B. zur Entstehung zahlreicher Ortsdialektbücher, nicht aber zu einer steigenden Zahl von Dialektsprecher:innen.

Dem Sprachwissenschaftler lag es schon immer am Herzen zu zeigen, dass Mundarten genauso komplexe Sprachsysteme wie Standardsprachen sind. Denn so wie es mit dem Beherrschen mehrerer Fremdsprachen ist, kann auch das Beherrschen verschiedener Varianten einer Sprache viele Vorteile bringen: „Wenn die Kinder neben der Mundart natürlich die Hochsprache kennen und können, aktiv gebrauchen können, dann ist das ja ein Gewinn. Je mehr ich Sprache kenne und kann, desto besser ist es und das ist auch für meine Kompetenz viel besser.“ Je nach Situation können Sprecher:innen abwägen und entscheiden, welche der verschiedenen Sprachvarietäten passend ist und diese dann verwenden. Heutzutage wird in Schulen so gut wie kein Dialekt mehr gesprochen. Dennoch können Kinder oftmals durch Musik, Theaterstücke und Musicals auf eine künstlerische Weise mit Mundart in Kontakt kommen.

Um zu zeigen, was Mundarten alles können und wie komplex diese sind, führte der Sprachwissenschaftler einige Umfragen durch, zum Beispiel dazu, wie fein sich dialektale Begriffe inhaltlich unterscheiden können. Das zeigt sich bei einer Umfrage zum Stichwort Schmutz, aus der hervorgeht, dass es spezifische Begriffe in Mundart gibt, die zwischen dem Ort, der Qualität und dem Kontext von Schmutz unterscheiden. Darüber hinaus können Bezeichnungen für genau dasselbe Objekt zwischen verschiedenen Mundarten variieren. Die Schublade kann als Schoss bezeichnet werden, was ‚einschieben‘ bedeutet oder aber auch Treck oder Tirang von franz. tirer ‚ziehen‘. In allen Varianten ist eine Bewegung enthalten, die sich lediglich in der Richtung unterscheidet, anders als in Lade, was nur die Funktion des Beladens beinhaltet. Somit betonen die Begriffe leicht unterschiedlich die Funktion des Objekts.

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Das rheinische Platt – Eine Bestandsaufnahme | © Rheinland-Verlag
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Das rheinische Platt – Eine Bestandsaufnahme | © Rheinland-Verlag

Dialekt im Handwerk

Was Mundart alles kann, zeigt sich nicht nur in einzelnen Begriffen, sondern auch in ganzen Fachsprachen, wie im Handwerk. Während innerhalb der Familie von Fritz Langensiepen zu Hause Standardsprache gesprochen wurde, war in dem Dorf, in dem er aufwuchs, „Mundart die Sprache überhaupt“. Abgesehen von ein paar wenigen Personen wie dem Förster, den Pfarrern und Lehrkräften nutzte im Alltag niemand Hochdeutsch, sondern Hunsrücker Mundart. Insgesamt war die Fachsprache, die damals im Handwerk benutzt wurde, sehr lokal.

In seiner Publikation Heu.Gier beschäftigt sich Fritz Langensiepen mit der Bedeutung von Heu als Motiv und Metapher in Kunst, in der Geschichte und im Alltag, insbesondere dem Zusammenhang von Heu und Gier. Für die Publikation wurde aufgenommen wie Ewald Franz, der letzte Wagner seiner Zunft, ein Modell eines Leiterwagens baute. Fritz Langensiepen setzt sich mit der Konstruktion des Leiterwagens in Hunsrücker Stellmacher-Sprache auseinander und liefert Einblicke in das Handwerk. Alle Fachbegriffe und Bestandteile werden in Mundart, in standardsprachlicher Übersetzung und mit Erläuterung aufgeführt. So ist beispielsweise der Liiseschdange-Schlop (‚Lünsstützen-Schlinge‘) ein dreigliedriges, bewegliches Eisenteil, in das die Seitenleiter eingehängt wird. Solche spezifischen Fachbegriffe sind selten in regionalen Wörterbüchern enthalten. Das Handwerk des Wagners ist Teil der Alltagskultur, die den Hunsrück geprägt hat. Dieses Wissen stellt immaterielles Kulturerbe dar und bleibt durch die Dokumentation erhalten, selbst wenn solche Heuwägen mittlerweile längst keine Alltagsgegenstände mehr sind.

In Zusammenarbeit mit Herrn Siebers wirkte Fritz Langensiepen als wissenschaftliche Begleitung in einer Broschüre über die Fachsprache der Klompenmaker (‚Holzschuhmacher‘) zum Handwerk im Dialekt mit. Darin werden die speziellen Werkzeuge zur Holzbearbeitung des Handwerks erklärt.

Und heute?

Auch im Ruhestand beschäftigt sich Fritz Langensiepen noch mit Mundart. Häufig erhält er von Museen Anfragen, Vorträge darüber zu halten, wie man Dialekte dokumentiert und was man dabei beachten muss, wie zum Beispiel vom Hunsrück-Museum Simmern. Doch er beschäftigt sich nicht nur wissenschaftlich mit Mundart, sondern auch kreativ. Der Sprachwissenschaftler schreibt Gedichte in Hunsrücker Mundart, oftmals mit Bezug zur Landschaft, und drückt damit seine regionale Identität aus.

Heutzutage sieht die Sprachlandschaft im Rheinland anders aus als zu dem Zeitpunkt, als Das rheinische Platt verfasst wurde. Dennoch lassen sich weiterhin regionale Unterschiede in der Alltagssprache finden. Herr Langensiepen beschreibt, dass das Schöne am Beruf der Sprachwissenschaftler:innen ist, Veränderung von Sprache mitzuerleben, denn es gibt immer Neues zu erforschen. Er betont: „Es ist ja nicht damit die Regionalität zu Ende. Und die Frage, die wir uns damals schon gestellt haben hier im […] damaligen Amt für rheinische Landeskunde: Was macht das Rheinland überhaupt aus?“

Das Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte hat sich zum Ziel gesetzt, dem Rheinland ein Profil zu geben. Ein wichtiger Bestandteil des Rheinlands ist, wie sich Rheinländer:innen ausdrücken und Sprache in ihrem Alltag nutzen. Und genau dazu hat Herr Langensiepen während seiner Zeit am ILR geforscht, Wissen gesammelt und aufbereitet, um es an Interessierte weiterzugeben.