Erp

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Bei dem Ort Erp, der seit den 1970er Jahren der Stadt Erftstadt angehört, handelt es sich wohl um das sprachwissenschaftlich am besten untersuchte Dorf im Rheinland. Und das, obwohl es sprachlich eigentlich nicht mehr (oder weniger) zu bieten hat als andere Orte der Umgebung…

Erp liegt mitten im ripuarischen Sprachraum, zu dem beispielsweise auch die Städte Aachen, Bonn und Köln gehören. So teilt das Erper Platt viele Eigenheiten mit diesen Dialekten: 'g' wird am Wortanfang als /j/ gesprochen (jut 'gut'), statt das und was gilt dat und wat und der hochdeutsche ich-Laut wird oftmals als sch ausgesprochen (Koronalisierung: manschmal statt manchmal). Und auch wenn das ursprüngliche Erper Platt von immer weniger Bewohner:innen des Ortes gesprochen wird – diese Besonderheiten finden sich auch häufig in der Sprache junger Menschen. Das trifft auf den "Erper Rollkies" nicht mehr zu. So bezeichnen die Dorfbewohner:innen eine Eigenheit des Ortsdialekts, die ihn vom Öcher Platt in Aachen, vom Bönnschen und Kölschen, aber auch von den Dialekten der umliegenden Dörfer wie Lechenich und Liblar unterscheidet: Statt des dort üblichen Rachen-r wird der Laut als gerolltes Zungenspitzen-r ausgesprochen. Doch dieses Charakteristikum findet sich heute nur noch bei sehr alten Sprecher:innen, die jungen Leute haben das gerollte r zugunsten der üblicheren Varianten der Umgebung aufgegeben.

Gerade von Außenstehenden wird das Erper Platt häufig mit dem Stadtdialekt des nahegelegenen Köln gleichgesetzt. Wenn es auch in vielerlei Hinsicht Überschneidungen gibt und das Kölsche in den vergangenen Jahrzehnten sicherlich Einfluss auf den Ortsdialekt hatte, so gibt es doch bis heute Unterschiede. So heißt der Baum in Köln Boum oder Baum, in Erp aber Boom. Dem Kölner Diphthong (Zwielaut) entspricht in Erp also ein einfacher langer Vokal. Gleiches gilt für das Wort Stein: In Köln lautet es Stein, in Erp hingegen Steen. Und auch bei der Bezeichnung für das Pferd ist man sich nicht einig: Die Großstadt verwendet Pääd, das Dorf Piad.

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Ortseingang von Erp | © Charlotte Rein, LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte
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Ortseingang von Erp | © Charlotte Rein, LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte

Auch wenn in Erp immer weniger aktive Dialektsprecher:innen zu finden sind, so hat das Erper Platt doch nach wie vor einen hohen Stellenwert als kulturelles Erbe der Dorfgemeinschaft. So hat sich ein Arbeitskreis gebildet, der eine Sammlung des Wortschatzes von Erp erstellt. Und alle zwei Jahre ist die Dorfsprache auch für alle Interessierten live zu erleben: Dann führt die Theatergruppe "Erp bliev Erp" ein selbstgeschriebenes Stück im Ortsdialekt auf. Und dabei spielen keineswegs nur ältere Dorfbewohner:innen, die den Dialekt noch als "Muttersprooch" erlernt haben, tragende Rollen. Auch jüngere Schauspieler:innen haben Spaß daran, den Text in der für sie ungewohnten Sprachform zu lernen und auf die Bühne zu bringen. Und das Publikum freut es!

Erp als Eldorado der rheinischen Dialektologie

All dies erklärt aber natürlich noch nicht, warum über Erp so viele sprachwissenschaftliche Untersuchungen vorliegen. Zur Beantwortung dieser Frage ist ein kurzer Blick in die Geschichte der Dialektologie des Rheinlandes notwendig.

Während bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts in dialektologischen Forschungsprojekten in erster Linie das 'älteste' und 'ursprünglichste' Platt eines Ortes oder einer Region dokumentiert werden sollte, änderte sich der Blickwinkel ab den 1960er Jahren. Immer deutlicher wurde, dass viele Sprecher:innen im beruflichen Alltag zunehmend Hochdeutsch sprachen, wenn auch zumeist ein Hochdeutsch, das seine rheinische Herkunft nicht verleugnen konnte. Diese Zusammenhänge wollten die Forscher:innen des Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande der Universität Bonn (heute: Arbeitsstelle Rheinische Sprachforschung) genauer untersuchen. Sie waren daran interessiert herauszufinden, wer im Rheinland mit wem und in welcher Situation wie spricht und welche Einflussfaktoren auf den Sprachgebrauch wirken: Sprechen Menschen, die zu ihrem Arbeitsplatz in einen größeren Ort pendeln weniger oder anders Dialekt als örtliche Landwirt:innen? Sprechen junge Leute anders als alte? Ist es relevant, ob der:die Gesprächspartner:in ein:e Freund:in oder ein:e unbekannte:r Wissenschaftler:in ist? 

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Karnevalsumzug in Erp 1977 | © Sammlung Jüssen, LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte
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Karnevalsumzug in Erp 1977 | © Sammlung Jüssen, LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte

Um diese Fragen zu beantworten, sollte für einen rheinischen Ort ein Kommunikations­profil erstellt werden. Und da man Veränderungen insbesondere dort vermutete, wo sich die Lebenssituation der Bewohner:innen veränderte, sollte der Untersuchungsort ein Dorf sein, das sich zunehmend durch Urbanisierungs- und Modernisierungsprozesse wandelte: Zuzug ortfremder Bürger:innen in Neubaugebiete, dadurch steigende Einwohnerzahlen, weniger landwirtschaftliche Betriebe und dadurch steigende Pendlerzahlen …

Etappe 1: 1970

Und da kam Erp ins Spiel. Der Ort erfüllte die genannten Kriterien: Er liegt nur etwa 40 km von Bonn entfernt, so dass Befragungen unproblematisch durchgeführt werden konnten, hatte 1971 1680 Einwohner:innen (Tendenz durch Neubaugebiete steigend, 1977 waren es bereits 1948), er war jahrhundertelang vornehmlich landwirtschaftlich geprägt und, mit am wichtigsten, der Ortsvorsteher hatte Interesse an dem Projekt und versprach den Wissenschaftler:innen seine Hilfe bei der Vermittlung von Gesprächspartner:innen.

So konnten von 1971-1974 mit 142 männlichen Bewohnern des Ortes zwischen 20 und 65 Jahren Sprachaufnahmen gemacht werden. Diese bestanden aus verschiedenen Teilen: So unterhielten sich zunächst zwei befreundete Erper über selbstgewählte, alltägliche Themen miteinander, anschließend wurden sie nacheinander zu ihrem Berufsleben interviewt. Die so erhobenen Daten gaben dann gut Aufschluss über das Sprachleben in Erp. So wurde deutlich, dass die meisten Bewohner:innen das Erper Platt noch beherrschten, unabhängig von Alter und Beruf. Es unterschied sich nur die Häufigkeit, mit der es verwendet wurde: Ein ortsansässiger Handwerksmeister sprach es auch mit vielen seiner Kund:innen, ein Verwaltungsangestellter in Köln nutzte beruflich meistens Hochdeutsch.

Aber auch das Erper Hochdeutsch ist durch typisch rheinische Merkmale wie die Koronalisierung (ich > isch), das dicke l oder die Verwendung von /j/ oder /ch/ statt 'g' geprägt. Wie viele Dialektmerkmale die Sprechenden im Hochdeutschen verwendet, war dann tatsächlich abhängig von Beruf und Alter: Eine große Anzahl verwendeten meist diejenigen, die in der Landwirtschaft oder in örtlichen Handwerksbetrieben tätig waren. Auch nutzten zumeist ältere Personen mehr dialektale Varianten als jüngere Gewährspersonen. Allerdings ließen Aussagen der Probanden darauf schließen, dass sich die Sprachwelt in Erp in baldiger Zukunft ändern würde: Alle Sprecher:innen gaben an, dass das Hochdeutsche die Sprachlage der Wahl in der Kindererziehung sei, viele von ihnen sprachen mit ihren Kindern bereits gar keinen Dialekt mehr.

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Kirche und Kriegerdenkmal in Erp | © Peter Weber, LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte
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Kirche und Kriegerdenkmal in Erp | © Peter Weber, LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte

Etappe 2: 1990

Um die Auswirkungen dieser Entscheidung zu dokumentieren, wurde Anfang der 1990er Jahre eine weitere Erhebung in Erp unternommen. Einige der ehemaligen Erper Gewährspersonen wurden erneut interviewt, gemeinsam mit ihren Töchtern. Hier zeigten sich nun deutlich generationsbedingte Unterschiede: Nur drei der fünf Frauen gaben an, den Dialekt noch zu beherrschen, eine Sprecherin hat sogar erhebliche Verstehensprobleme. Und auch in der Interviewsprache zeigten sich deutliche Differenzen. So war zwar auch das Hochdeutsch der fünf Töchter rheinisch geprägt, im Vergleich zu dem ihrer Väter traten aber weniger unterschiedliche Dialektmerkmale auf. Und die Formen, die dialektal verwendet wurden, kamen zumeist bei den älteren Probanden häufiger vor als bei den jüngeren Sprecherinnen. Das Umdenken bezüglich der Verwendung von Dialekt in der Kindererziehung hatte also in Erp deutliche Spuren hinterlassen.

Etappe 3: 2015

Wieder 25 Jahre später erfolgte 2015 die nächste Untersuchungsetappe. Diesmal stand eine in der Dialektologie selten untersuchte Frage im Vordergrund: Hat sich die Sprache der einzelnen Männer in den vergangenen 40 Jahren verändert? Selten liegen von denselben Personen vergleichbare Sprachdaten aus einem so großem Zeitraum vor, weshalb nicht oft Forschungen zu diesem Thema möglich sind. Aber gerade in einer Sprachgemeinschaft, in der sich in den vergangenen vier Jahrzehnten das Kommunikationsprofil so stark verändert hat wie in Erp, ist es interessant zu überprüfen, ob diese Veränderungen von den einzelnen Sprechern mitgemacht werden oder ob sie nur von Generation zu Generation zum Tragen kommen. Die konkrete Forschungsfrage lautete daher: Verwenden die Männer in den unterschiedlichen Gesprächssituationen immer noch genauso viele Dialektmerkmale wie zu Beginn der 1970er Jahre? Oder haben sie sich der Generation ihrer Kinder angepasst und die rheinischen Varianten reduziert?

Um dies beantworten zu können, wurden mit neun Gewährspersonen des ursprünglichen Projektes erneut Aufnahmen gemacht, wieder wurde eine Unterhaltung mit einem anderen Erper Bürger und ein Interview mit einer Wissenschaftlerin aufgezeichnet. Zusätzlich wurden Aufzeichnungen von der Sprache ihrer Kinder gemacht, um auch einen Generationsvergleich vornehmen zu können. Der Vergleich der Daten derselben Sprecher aus den 1970er Jahren und von 2015 zeigte ein interessantes Ergebnis: Das Erper Platt, dass die neun Männer im Gespräch mit einem anderen Erper Bürger verwendeten, war 2015 im Durchschnitt tatsächlich durch weniger dialektale Merkmale geprägt als in den 1970er Jahren. Das heißt, in mehr Fällen wurde statt der rheinischen Variante die hochsprachliche Form verwendet. Dies zeigte sich beispielweise bei Wörtern wie SteinBein oder klein. Diese lauten in Erp SteenBeen und kleen, dem hochdeutschen ei entspricht also dialektales langes e. In den alten Aufnahmen verwendeten die Männer im Erper Platt in 49 % aller Wörter das rheinische e, sonst das hochdeutsche ei. In den neuen Aufnahmen nahm die hochdeutsche Form nun weiter zu, jetzt wurde sie in 61 % der Fälle gebraucht, die Dialektform nur noch zu 39 %.

Hingegen war das Hochdeutsch der Gewährspersonen 2015 durch mehr Dialekt­merkmale geprägt als in den 1970er Jahren. Das zeigte sich beispielsweise an der Aussprache des hochdeutschen b. In Erp wird, wie überall im Ripuarischen, das b im Inneren und am Ende eines Wortes zumeist als v oder f ausgesprochen: blieve statt bleiben. In den 1970er Jahren wurde dieses dialektale v/f im Interview zu 92 % durch das hochdeutsche b ersetzt, es heißt also zum Beispiel viel häufiger geschrieben als jeschrive. 2015 sieht das anders aus. Da wird nur noch in 83 % der Fälle b verwendet, zu 17 % v/f.

Der Vergleich mit den Daten der Kinder­generation zeigte, dass die jungen Erper:innen, die nach 1970 geboren wurden, in der Regel den Ortsdialekt nicht mehr erlernten. Wie aber bei den Töchtern, die in den 1990er Jahren an der Untersuchung teilgenommen hatten, war auch ihre Sprache noch durch rheinische Merkmale geprägt. Auch die Sprecher:innen der Kindergeneration verwendeten diese Varianten im Gespräch mit der Wissenschaftlerin seltener, als wenn sie sich mit­einander unter­hielten. So heißt es nur noch zu 1 % blieve, zu 99 % bleiben. Im Gespräch mit einem anderen Erper sind die dialektalen Formen noch häufiger, aber seltener als bei den älteren Personen. So kommt in diesen Unterhaltungen noch zu 25 % rheinisches e vor (Kleed), in 75 % der Fälle sagen die jungen Leute ei (Kleid).

Man kann also festhalten, dass die Männer aus Erp ihren Dialekt in den letzten 40 Jahren durchaus an den selteneren Gebrauch in der dörflichen Kommunikation angepasst haben, in dem sie in den Gesprächen mehr hochdeutsche Formen verwenden. Andererseits hat sich ihr Hochdeutsch weiter vom 'Ideal' entfernt. Das mag daran liegen, dass sie 2015 zumeist in Rente sind und dadurch seltener in öffentlichen Situationen wie im Gespräch mit Vorgesetzten, Kund:innen oder Kolleg:innen möglichst unrheinisches Hochdeutsch sprechen müssen. So hat sich ihre 'formale' Sprachlage ein wenig mehr ihrer Muttersprache angenähert – dem Erper Platt.

Hier gibt es noch mehr Informationen zur Erper Sprachgeschichte.