Hötter Platt

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Bereits zu römischer Zeit war das Rheinland eine der führenden Regionen in der Glasherstellung, ermöglicht wurde dies durch das häufige Vorkommen von fast reinweißem Sand. Im Gegensatz zu heute war Glas zu dieser Zeit noch ein absolutes Luxusgut, das sich nur wohlhabende Bürger leisten konnten. Unsere heutige alltägliche Verwendung von Glas beispielsweise als Getränkeflaschen wurde erst in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts üblich. Was hat aber nun der häufigere Gebrauch von Glas mit der Entstehung einer Dialektinsel im Rheinland zu tun?

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Rechnungskopf der AG Gerresheimer Glashüttenwerke 1907 | © gemeinfrei
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Rechnungskopf der AG Gerresheimer Glashüttenwerke 1907 | © gemeinfrei

Des Rätsels Lösung liegt in Düsseldorf-Gerresheim, genauer noch in der Heyeschen Glashütte. Diese wurde 1864 von Ferdinand Heye gegründet, einem Unternehmer mit gutem Gespür für erfolgreiche Geschäfte - er war mit seiner Glashütte nämlich genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Denn Düsseldorf war für den Weiterverkauf des Glases verkehrsgünstig gelegen und mit Kohle aus dem Ruhrgebiet, Kalk aus Velbert und dem Neandertal und Sand aus Düsseldorf konnten wichtige Produktionsmittel lokal erworben werden. Viel wichtiger aber war die geographische Nähe zur potentiellen Kundschaft: zu den rheinischen und Eifler Mineralbrunnen, den Weingütern an Rhein und Mosel sowie zu den großen Brauereien im Sauerland und an der Ruhr. Und ebendiese Produzent:innen begannen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend, ihre Produkte nicht mehr wie bisher in Fässern, Kannen und Tonkrügen zu verkaufen, sondern in Flaschen. Und so waren die Produkte von Ferdinand Heye bald sehr gefragt: Schon um die Jahrhundertwende war seine Glashütte der größte Flaschenproduzent der Welt.

Eine Herausforderung für den Gerresheimer Fabrikanten: Er musste in kurzer Zeit viele Fachkräfte für seine Glashütte einstellen und dass zu einer Zeit, in der Glasbläser sehr gefragte Arbeiter waren. Ferdinand Heye gelang aber auch dies, indem er eine komfortable Wohnsiedlung erbauen ließ, das sogenannte Hüttenviertel, in dem die Angestellten mit ihren Familien leben konnten. Und so stieg die Zahl der Mitarbeitenden ebenso wie die Absatzzahlen rasant an: Arbeiteten 1876 gerade einmal 250 Personen auf der Hütte, waren es 1901 bereits über 4800, davon allein 2982 Glasmacher:innen. Die Produktionsrate stieg von 14 Millionen Flaschen im Jahr 1880 auf 47 Millionen Flaschen im Jahr 1890.

Bei solch einem großen Mitarbeiterbedarf konnten natürlich nicht nur Glasmacher:innen aus dem Rheinland angestellt werden, 40 Prozent von ihnen waren in den Reichsgebieten östlich der Elbe angeworben worden. Auf den großen Gütern in Pommern und Westpreußen wurden zu dieser Zeit noch sehr viele kleinere Landglashütten betrieben, um die großen Waldbestände nutzbringend verwerten zu können. Daher war der Beruf in diesen Gegenden noch weit verbreitet. Hinzu kamen noch einmal fast 20 Prozent deutschsprachige Arbeiter:innen aus Russland.

Die Verbundenheit der Glasmacherfamilien mit der Glashütte, die durch werkseigene Wohlfahrtseinrichtungen noch verstärkt wurde, bedeutete eine gewisse Abgrenzung gegen die alteingesessene Bevölkerung, die sich auch im Heiratsverhalten offenbarte. Und auch sprachlich unterschieden sie sich von der ripuarisch-südniederfränkischen Mundart der Gerresheimern. Denn als alltägliche Sprechsprache zwischen den Hüttenarbeiter:innen und ihren Familien hatte sich eine eigene Sprachform entwickelt: das Hötter Platt. Es speiste sich aus den verschiedenen niederdeutschen Dialekten der Zugewanderten, es entwickelte sich eine so genannte Ausgleichsmundart. Dieser Dialekt wies Eigenarten der unterschiedlichsten Mundarten auf, beispielsweise des Hamburgischen, Mecklenburgischen, Posenischen, Brandenburgischen, Danzigischen, Kur- und Livländischen und war in seiner Mischung einmalig.

Merkmale des Hötter Platt

Typisch für das gesamte Niederdeutsche, so auch für das Hötter Platt, sind die unverschobenen Formen der Zweiten Lautverschiebung (ik 'ich', söken 'suchen', tosamm 'zusammen', Tiet 'Zeit'), die zum Teil auch in den Dialekten der Düsseldorfer Ortschaften vorkommen (dat 'das', Pund 'Pfund', Dorp 'Dorf'). Markant ist außerdem das Partizip Perfekt ohne Präfix: schlacht 'geschlachtet', mookt 'gemacht', soopn 'gesoffen' sowie die e-losen Verbendungen: mookn 'machen', schloopn 'schlafen', säätn 'gesessen'. Demgegenüber stehen im Rheinischen Formen mit Ausfall des n: mache, schloofe, jesesse. Auch an einigen wichtigen Alltagsbegriffen zeigt sich deutlich die niederdeutsche Herkunft des Hötter Platt: Buddel 'Flasche', Olsch 'Alte/Ehefrau', Ölern 'Eltern', prünen 'nähen' und bätn 'bisschen'. Eine weitere Eigenheit ist der Rhotazismus, also der Wechsel von /d/ und /t/ zwischen Vokalen zu /r/: Bruurer 'Bruder' und wära 'wieder'.

Sprachgebrauch heute

Im Gegensatz zum Dialekt der Pfälzischen Sprachinsel kann das Hötter Platt heute als ausgestorbene Mundart gelten. Durch ihren engen Geltungsraum war sie stark von der Glashütte und dem Hüttenviertel und seinen Bewohner:innen abhängig und hier veränderten sich die Verhältnisse bereit im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wieder deutlich. Denn die Blütezeit der Gerresheimer Glashütte war ähnlich schnell vorbei, wie sie begonnen hatte: Schon 1908 begann hier die maschinelle Flaschenproduktion, die bis 1942 die manuelle Glasbläserei verdrängte. 2005 wurde das Werk dann ganz geschlossen. Alte Gerresheimer datieren daher auch die Existenz der "Hött" und damit der Sprachinsel bis in die ersten Nachkriegsjahre. Vor diesem Hintergrund ist es schon ein kleines Wunder, dass tatsächlich noch die letzten Sprecher:innen des Hötter Platt für die Nachwelt dokumentiert werden konnten: Die Tochter eines Glasbläsers erzählt in der ersten Hörprobe vom Arbeitsalltag auf der Hütte, ein Gerresheimer Zahnarzt eine Geschichte aus der schlechten Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Wie im Vergleich dazu die ripuarische Düsseldorfer Stadtmundart klingt, ist hier zu hören.