Murmeln

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Vielleicht erschließt sie sich erst auf den zweiten Blick, aber diese rheinländische Karte für die Bezeichnungen der ‚Murmeln‘ im Regiolekt weist eine recht klare räumliche Struktur auf: Am unteren Niederrhein sagt man Knicker (rot), zwischen Rommerskirchen und Bad Honnef Klicker (hellgrün). Kölsche (gelb) wurde im Westen gemeldet, auf der Karte zu finden zwischen Kempen und Linnich; im Bergischen Land ist Häuer (braun) bekannt. Zu den kleinräumigen Bezeichnungen gehört ferner Kniggel (dunkelgrün), auf der Karte zwischen Wesseling und Voreifel. Die hochdeutsche Bezeichnung Murmeln (hellblau) kommt überall vor. Ferner tritt das Rot von Knicker nicht nur im Norden, sondern auch im Aachener Raum und entlang der Grenze zu den Niederlanden in Erscheinung sowie in einem von West nach Ost sich ziehenden Streifen von Wassenberg über Mönchengladbach und Dormagen bis nach Odenthal, Wipperfürth und Wiehl. Schließlich sind nicht wenige der Symbole ganz oder teilweise lila gefüllt (siehe unten).

 Knicker, Klicker, Kniggel, Kölsche und Häuer gehen auf die Dialekte des Rheinlands zurück, wie die themengleichen Karten im „Rheinischen Wörterbuch“ (Band 4, Karte 22) und im „Rheinischen Wortatlas“ (Lausberg/Möller 2000, Karte 20) erkennen lassen. Letzterer, erschienen im Jahr 2000, reicht weiter nach Süden und bezieht Bad Kreuznach und Saarbrücken noch ein. Auf der „Wortatlas“-Karte ist zu erkennen, dass Kniggel im Dialekt in einem Gebiet bis zur Kyll hin vorkommt und Klicker noch auf dem Hunsrück und im Saarland verwendet wird (und im Dialekt Klecker, Kligger oder Gligger heißen kann).

Bild
Murmeln | © LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, CC BY 4.0
Bildunterschrift
Murmeln | © LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, CC BY 4.0

Die vorliegende Regiolektkarte präsentiert Ergebnisse einer 2012 durchgeführten Fragebogenerhebung – aber nicht alle. Bei der Auswertung dieser Erhebung von 2012 wurden nämlich vier Altersgruppen gebildet: 16–24 Jahre, 25–44 Jahre, 45–64 Jahre und 65+ (bezogen auf 2012). Die Karte beruht ausschließlich auf den Angaben der Altersgruppe 45 bis 64, es sind also Gewährsleute, die zwischen 1948 und 1967 geboren worden sind. Das ist wichtig. Menschen dieses Alters kennen noch alte Bezeichnungen wie Knicker und Klicker, wie Kölsche, Kniggel und Häuer. Dies ist bei jungen Leuten heute nicht unbedingt mehr zu erwarten. Denn erstens haben sie selbst wohl noch nie im Leben mit Murmeln gespielt, und zweitens haben sie wahrscheinlich auch nie diese alten Wörter gehört. Das ist zu bedenken, wenn man vergleichend die entsprechende Karte aus dem „Atlas zur deutschen Alltagssprache“ (AdA) heranzieht, auf der im Rheinland Knicker und Klicker kaum noch und die anderen alten Bezeichnungen gar nicht mehr vorkommen, so dass fast ausschließlich Murmel zu kartieren war (AdA, Runde zehn). Viele der Menschen, auf deren Angaben die Regiolektkarte hier beruht, sind inzwischen Rentner:innen: Ihr Regiolekt ist anders.

Knicker für ‚Murmeln‘ ist oder war auch außerhalb des Rheinlands geläufig. In den 1970er Jahren etwa war mit dieser Bezeichnung in einem Gebiet zu rechnen, das Aachen als südlichsten Punkt hatte, den Niederrhein, das Ruhrgebiet und Westfalen umfasste und im Norden mit Aurich und Wilhelmshaven bis zur niedersächsischen Küste reichte. Das zeigt zumindest die 1977 erschienene Karte im „Wortatlas der deutschen Umgangssprachen“ (Eichhoff 1977, Karte 50); dieses Werk war der nichtdialektalen Umgangssprache in Städten gewidmet.

Zurück zur Regiolektkarte für das Rheinland. Die Karte enthält zwar Belege für die Altersgruppe 45–64 Jahre (im Jahr 2012), allerdings nicht alle. Die Zahl der ausgewerteten Fragebögen wurde auf zehn pro Kommune begrenzt, wenn dort mehr ausgefüllte Fragebögen für Menschen dieses Alters vorlagen; berücksichtigt wurden die zehn vom Alter her in der Mitte liegenden Personen. Wenn für eine Kommune nur eine einzige Bezeichnung gemeldet wurde, ist das Kreissymbol einfarbig gefüllt. Wo zwei Varianten gleich stark waren, steht das Halbe-halbe-Symbol; das Dreiviertelsymbol begegnet dort, wo eine Variante häufiger als eine zweite vorkam. Lila steht für eine andere zahlenmäßige Variantenkonstellation oder für weitere, nicht in der Legende aufgeführte Bezeichnungen.

Einen besonders interessanten Fall stellt Knicker dar. Im Vergleich zwischen den Dialektkarten und der vorliegenden Regiolektkarte scheint Knicker im Regiolekt für das Rheinland häufiger genannt zu werden, als es seiner Verbreitung im Dialekt (dort Knecker, Knicker) entspricht. Das könnte damit zusammenhängen, dass Knicker (mit i) geradezu als hochdeutsch eingestuft wird oder wurde. Als Beleg dafür ließe sich das 1974 erschienene Dialektwörterbuch für Solingen heranziehen, das als Bedeutung von Häuer „Murmel, Knicker“ nennt (Picard 1974, S. 119). Oder das Wörterbuch für den Dialekt von Duisburg-Meiderich: Dort lautet das Stichwort Knéckers (Mehrzahl) mit der Bedeutungsangabe „Knicker, Murmel“ (Frank 1982, S. 85). Als Übersetzung des darauf folgenden dialektalen Beispielsatzes ist zu lesen: „mit  […] grauen, scheelen und bunten Glasknickern haben wir gespielt“. Für beide Wörterbuchverfasser war Murmel möglicherweise ein Wort der Schriftsprache, Knicker aber das Pendant im gesprochenen Hochdeutsch.

Aber auch Klicker hat eine „hochdeutsche“ Vergangenheit. So wird das Wort im „Rheinischen Wörterbuch“ zur Angabe der Bedeutung anderer Bezeichnungen eingesetzt; Dotz etwa wird durch „Klicker“ erklärt (RhWb, Band 1, Sp. 1599). Und um noch weiter zurückzugehen: Bereits 1888 erschien eine Dialektdokumentation für Süchteln (im heutigen Kreis Viersen), die auch ein „Wortverzeichnis“ enthielt. Dem ist zu entnehmen, dass der Kneckert (vergleiche Knecker, Knicker) ein „Thonklicker“ war (Freudenberg 1888, S. 14).