Möhre

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Auf der Regiolektkarte dominiert in allen Ecken des Rheinlands die Bezeichnung Möhre (orange). Anderswo im deutschen Sprachraum gibt es Regionen, in denen umgangssprachlich Wurzel, Mohrrübe oder Karotte gebräuchlich ist (siehe unten). Die genannten Bezeichnungen wurden im Jahre 2012, als das Material für diese Karte gesammelt wurde, gelegentlich auch für die regionale Umgangssprache im Rheinland genannt: Mohrübe (gelb), Karotte (blau), Wurzel (rot).

Dabei zeichnet sich Wurzel (für die Möhre) dadurch aus, dass sie am Niederrhein mit der dialektalen Bezeichnung Wortel korrespondiert, wie die entsprechende Dialektkarte im „Rheinischen Wortatlas“ zeigt: Am unteren Niederrhein ist darauf flächendeckend Wortel verzeichnet, deren Gebiet im Linksrheinischen von Keeken und Zyfflich im Norden bis nach Straelen und Moers im Süden, rechtsrheinisch von Elten an der niederländischen Grenze bis zur Ruhr reicht (Lausberg/Möller 2000, Karte 5).

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Möhre | © LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, CC BY 4.0
Bildunterschrift
Möhre | © LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, CC BY 4.0

Wortel hat am unteren Niederrhein mindestens zwei Bedeutungen: Erstens ‚Wurzel‘ (wie überall), zweitens ‚Möhre‘. Im Wörterbuch von Rheinberg sind Satzbespiele für beide Bedeutungen enthalten. ‚Möhre‘: Met twee Reije Wortelen in onse Gade salle we doch well genug hebbe (Mit zwei Reihen Möhren in unserm Garten werden wir doch wohl genug haben). Ek kook Soterdag ‚Wortelen ondereen‘ med-en Reppken dobe (Ich koche Samstag ‚Möhren untereinander‘ mit einem Rippchen dazu, wobei Wortelen ondereen sich auch durch ‚Möhreneintopf‘ übersetzen ließe). ‚Wurzel‘: Die Wortele van den Boom sind bös in et Kanaalroht gekrope (Die Wurzeln des Baumes sind bis in das Kanalrohr gekrochen) (Horster 1996, S. 568; Schreibung verändert).

Das niederrheinische Dialektwort Wortel in der Bedeutung ‚Möhre’ steht in größeren Zusammenhängen. Es setzt sich sowohl nach Osten und Nordosten hin (Westfalen, Norddeutschland) als auch in die Niederlande hin fort; standardniederländisch heißt die Möhre wortel. Das Wortel- oder Wurzel-Gebiet am Rhein war einst vermutlich viel größer, auch das Kölnische gehörte vor Jahrhunderten dazu.   

Südlich des Wortel-Areals wird die Möhre in den Dialekten des Rheinlands zumeist Muhr (oder Muer) genannt, dessen Verbreitungsgebiet bis zur Mosel hinunterreicht. Sehr selten sind in diesem Raum verstreut Karott-Belege zu finden.

Umgangssprachlich ist im Rheinland heute also vor allem mit Möhre zu rechnen. Man sät Möhren im Garten (wobei Nutzgärten heute selten geworden sind), kauft Möhren bei der Gemüsefrau und kocht Möhren als Bestandteil des Mittagessens. Karotten kommen möglicherweise dann ins Spiel, wenn „feine“ Sorten gemeint sind oder wenn „fein“ gekocht wird. Interessant könnte es sein, die Bezeichnungen auf den Speisekarten teurerer Restaurants zu analysieren. Wie oft werden feine Möhren serviert, wie oft feine Karotten? Es ist auch mit feinen Möhrchen zu rechnen, allerdings wohl weniger mit feinen Karöttchen.

Nach den Möhren-Bezeichnungen hat auch schon Paul Kretschmer gefragt, dessen „Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache“ 1918 erschien. Kretschmer interessierte sich, legt man die heutige Terminologie zugrunde, weniger für die Umgangssprache (= Regiolekt) als fürs Hochdeutsche. Zu seiner Zeit nannten viele Menschen in Norddeutschland die Möhre Wurzel, eine Bezeichnung, die auch in Westfalen noch verbreitet war und zumindest bis nach Wesel am Niederrhein reichte (Kretschmer 1918, S. 337). 60 Jahre später erschien der zweite Band von Jürgen Eichhoffs Atlas zu den regionalen Umgangssprachen im deutschen Sprachraum; auf der Möhre-Karte reichte Wurzel vom Norden Deutschlands aus dann noch bis nach Hamm, Dortmund und Bochum (Eichhoff 1978, Karte 89). Die themengleiche Karte im „Atlas zur deutschen Alltagssprache“ lässt vermuten, dass das Wurzel-Gebiet immer weiter schrumpft und dass in Westfalen heute, zumindest für die jüngeren Generationen, Möhre die gebräuchliche Bezeichnung ist.

Auf der hier vorgestellten Regiolektkarte taucht das Rot von Wurzel an verschiedenen Stellen auf: In Wachtberg und Erftstadt im südlichen Rheinland und in Kalkar und Schrembeck am unteren Niederrhein. In Wachtberg und Erftstadt nannte jedoch jeweils nur eine von zehn Gewährspersonen Wurzel. Im niederrheinischen Schermbeck fand sich Wurzel auf einem von zwei Fragebögen; für Kalkar schließlich lag nur ein einziger Fragebogen für diese Altersgruppe vor (zur Auswertungsmethode siehe unten). Allerdings hatten auch einige andere Gewährsleute am Niederrhein Wortele oder Wortels vermerkt; diese Angaben wurden jedoch nicht in die Auswertung einbezogen, da es sich dabei ganz offensichtlich um Belege für den Dialekt handelt.

Der Karte liegt die ILR-Fragebogenerhebung des Jahres 2012 zugrunde. Dargestellt werden die Antworten für die Altersgruppe 45 – 64 Jahre (bezogen auf 2012). Lagen für eine Kommune zahlreiche Fragebögen für diese Altersgruppe vor, wurden nur zehn für die Karte berücksichtigt (die der zehn vom Alter her in der Mitte liegenden Personen). Wurde für eine Kommune nur eine einzige Variante gemeldet, ist das Kreissymbol einfarbig gefüllt (etwa für Kalkar). Das Halbe-Halbe-Symbol, hier zum Beispiel für Schermbeck, zeigt an, dass zwei Varianten gleich stark waren. Kam eine Variante häufiger als eine/die zweite vor, wurde, wie hier bei Erftstadt und Wachtberg, das Dreiviertelsymbol gewählt. Lila steht für eine andere zahlenmäßige Variantenkonstellation oder für eine weitere Variante (die nicht in der Kartenlegende aufgeführt ist). Auf dem Fragebogen waren Möhre, Karotte und Mohrrübe vorgegeben worden, Wurzel nicht. Mit Wurzel als umgangssprachlicher Bezeichnung war nicht gerechnet worden.