Essensreste

Text

Wer seine Mahlzeit nicht aufisst und Reste auf dem Teller lässt, der macht… 
 
Urzen (gelb) ist ein in der Südhälfte des Rheinlands häufig genanntes Wort. Damit konkurriert im Raum Aachen, aber auch unmittelbar am Rhein Otzen (orange). Am unteren Niederrhein ist Otten (rot) beheimatet. Zwei weitere Bezeichnungen sind Knösen und Rözchen. Knösen (blau) begegnet vor allem im Raum Grefrath (Kreis Viersen), Wassenberg und Dormagen, während Rözchen (grün) arealbildend in Bonn und Umgebung in Erscheinung tritt. All diese Wörter gehen auf den Dialekt zurück.

Das t in Otten ist dasselbe t wie in den Dialektwörtern schwatt, grot oder äte (schwarz, groß, essen). Es ist der ursprüngliche Laut, der im Süden, südlich der Benrather Linie, zu s beziehungsweise ts (z) geworden ist: schwatz, jruß, esse. Daher ist Otten im Norden zu finden und Otzen und Urzen im Süden. In seinem etymologischen Nachschlagewerk „Wo kommt dat her“ beschreibt Peter Honnen die Geschichte dieser drei alten Bezeichnungen. Und er legt ebenfalls dar, dass verwandte Wörter auch in anderen Dialekten und in anderen Sprachen auftauchen. So nennt er Orte für Westfalen, Uräße für Hessen oder Urzen für das Elsässische, als Beleg aus dem Englischen führt er orts an (Honnen 2018, S. 602/603).

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Essensreste | © LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, CC BY 4.0
Bildunterschrift
Essensreste | © LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, CC BY 4.0

Am rechten Niederrhein und in den Ruhrgebietsstädten (auf der Karte: Essen und Mülheim/Ruhr) ist immer wieder auch die „südliche“ Variante Otzen (orange) zu finden. In Essen ist der Reichtum an Laut- und Formvarianten sehr groß, wie sich dort schon bei einer 2009 ebenfalls mittels eines Fragebogens durchgeführten Studie gezeigt hatte; insgesamt 154 Essener:innen hatten den Fragebogen ausgefüllt (Cornelissen 2010, S. 73-76). Vorgegeben worden waren die Bezeichnungen Otten, Otzen und Ötzen. Otzen wurde am häufigsten angekreuzt (von 29 Prozent der Befragten), gefolgt von Otten (27 Prozent) und Ötzen (15 Prozent). So können übrigens auch Getränkereste bezeichnet werden.

An diese Nomen schließen sich wieder Tätigkeitswörter an, die auf einigen Essener Fragebögen aufgeführt wurden. In Essen kennen manche Menschen auch das Verb otten; als Beispielsätze waren zu finden: Hier wird nich geottet. Und: Iss auf, Kind. Musse nich otten! Für Essen wurden ferner genannt: Utzen, Ützen, Ützken/Ützkes und Ötzken/Ötzkes. Außerdem Örzen und Örzkes, je einmal Össels, Üssel und Genüssel. Ötten, als Variante von Otten, fand sich ebenfalls einmal, ebenso dat Geöttke. Eine Person aus Essen-Schönebeck, geboren 1956, notierte auf ihrem Fragebogen: „Meine Schwester hieß wegen ihrer Reste auf dem Teller dann gern mal Otzenelli.“

Knösen (blau) geht auf die Dialektform Knös (ebenfalls Mehrzahl) zurück; das „Rheinische Wörterbuch“ nennt als erste Bedeutung „Speiserest, Speise, die man auf den Teller genommen, aber nicht gegessen hat“ (Rheinisches Wörterbuch, Band 4, Sp. 899). Dieses Nomen gehört zum Verb knöse, in der regionalen Umgangssprache knösen in der Bedeutung „im Essen matschen, unappetitlich essen“ (Honnen 2012, S. 120). Rözchen stammt ebenfalls ursprünglich aus dem Dialekt: Rözje; im Dialekt konnte ein Rözje früher bedeuten: „Rest von Speisen, Getränken, Tabak, hängen gebliebenes kleines Obst“ (Rheinisches Wörterbuch, Band 7, Sp. 653).

Die in der Kartenlegende aufgeführten Bezeichnungen haben zahlreiche Lautvarianten, die jeweils zusammengefasst werden. Zu Otten wurde etwa für Dinslaken und Voerde auch Geott gerechnet (auf der Karte: lila, siehe unten), anderswo Ort, Orten oder Otterei. Neben Otzen kamen auch Orzen, Ötz oder Ötzkes vor. Statt Urzen begegnet auch Utzen oder Urzel, gelegentlich auch Utz (so in Grevenbroich). Neben Rözchen wurde Rüzchen notiert (beides zum Beispiel für Bonn), Knösen kann auch Knäusen lauten (so in Willich). Nicht in der Legende enthalten ist eine Reihe weiterer Lexeme: Für Solingen wurde neben Urzen (gelb) Nöseln (lila) genannt, im benachbarten Wuppertal war Stipkes (lila) auf einem Fragebogen zu finden. Für Düsseldorf meldeten die Gewährspersonen neben Utzen, Ötz und Ötzkes (orange) auch Nüselchen (lila).

Auf dieser Karte „fehlen“ nicht wenige Kommunen: Zwar liegen für sie ausgefüllte Fragebögen vor, aber für die „Essensreste“ wurden keine Bezeichnungen genannt. Hier wiederholte sich eine Erfahrung, die drei Jahre zuvor schon in Essen gemacht worden war; in den Worten der Essener Gewährsleute: „Kenn ich gar nicht!“ / „ist mir nicht geläufig“ / „Ich ess immer auf – kein genannter Begriff ist mir geläufig“. Es ließe sich hier von einer „individuellen Wortschatzlücke“ sprechen.  

Auf der Karte dargeboten werden die Antworten für die Altersgruppe 45 – 64 Jahre (bezogen auf das Jahr 2012). Für jede Kommune wurden im Höchstfall zehn Fragebögen für die Karte berücksichtigt (die der zehn vom Alter her in der Mitte liegenden Personen). Ein einfarbig gefülltes Kreissymbol zeigt an, dass nur eine einzige Variante gemeldet worden war. Dagegen ist das Halbe-halbe-Symbol dann eingezeichnet, wenn zwei Varianten gleich stark waren. Kam eine Variante häufiger als eine/die zweite vor, wurde das Dreiviertelsymbol gewählt. Lila steht für eine andere zahlenmäßige Variantenkonstellation oder für eine weitere Variante (die nicht in der Kartenlegende aufgeführt ist).