Stotzheim (Kreis Euskirchen)

Stotzheimer Jenisch

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Der kleine Ort Stotzheim bei Euskirchen nimmt nicht nur in der rheinischen Geheimsprachenlandschaft eine ganz besondere Stellung ein. Denn hier haben einmal kleine Gemeinden von Tuchwarenhausierer:innen, Lumpensammler:innen, Kesselflicker:innen und jüdische Wanderhändler:innen und sogar eine Gemeinschaft von offensichtlichen Trickbetrüger:innen gelebt – und alle haben einen jeweils individuellen Rotwelschdialekt gesprochen. Allerdings ist die genaue Zuordnung des überlieferten Wortschatzes heute nicht mehr uneingeschränkt möglich.

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Stotzheim von oben | © Wolkenkratzer, CC BY-SA 4.0
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Stotzheim von oben | © Wolkenkratzer, CC BY-SA 4.0

Am leichtesten gelingt dies noch bei der Gaunersprache der Kümmeltürmer, wie sich die Bauernfänger:innen und Falschspieler:innen selbst bezeichneten. Ihr Wortschatz ist in einer alten Kladde überliefert - und ein geradezu idealtypisches Beispiel für eine echte Gaunersprache. Ein kleiner Ausschnitt:

Beisschlag 'Hausdiebstahl'
Chelfzieher 'Taschendieb'
Druck machen 'stehlen'
Mackener 'Nachschlüsseldieb'
Schärfer 'Hehler'
Schibberer 'Einbrecher', Schränker 'Einbrecher'

Gleichzeitig ist diese Gaunersprache aber auch ein schönes Beispiel für die sprachliche Phantasie der Rotwelschsprecher:innen, denen wirklich anschauliche Wortschöpfungen gelingen:

Goldspinne 'Freudenmädchen'
Apostelklopfer, Prophetenschläger 'Buchbinder'
Heilprophet 'Arzt'
Samtkopf 'Häftling'
Sonnenschmied 'Klempner'
Schwarzmertiner 'Anstreicher'

So typisch diese Wortbeispiele für eine "klassische" Gaunersprache auch sind, so wenig typisch sind sie jedoch für rheinische Rotwelschdialekte. Deren Sprecher:innen waren eben keine Kriminellen, sondern meist unter unwürdigen Bedingungen hart arbeitetende Familien, deren Landfahrer:innendasein nichts mit Romantik zu tun hatte. Das galt sicher auch für die Wannlepper, wie im Rheinland die Kesselflicker:innen bezeichnet werden, die schon um 1800 in Stotzheim nachgewiesen sind und deren Nachkommen noch heute im Ort leben. Deshalb haben sich auch Spuren ihres Jenisch, wie sie selbst ihren Rotwelschdialekt nennen, im heutigen Ortsdialekt erhalten: Prehmer 'Pastor', Jängelefläpp 'Bettler', Schockelemaiem 'Kaffee', känn 'ja', Taufes 'Gefängnis', Toches 'Hintern'.

Jenisch ist die Sprache einer bestimmten Gruppe von Landfahrer:innen, die sich selbst als Jenische bezeichnen und die im gesamten deutschen Sprachraum leben. Die Abgrenzung zu anderen ambulant lebenden Gruppen ist schwierig, oft wurden sie deshalb sogar – fälschlich - den Sinti oder Romani zugerechnet. Allerdings müssen beide Gruppen Kontakt gehabt haben, denn im Stotzheimer Rotwelsch lassen sich noch heute Entlehnungen aus dem Romanes nachweisen:

Kahnesbossler 'Korbmacher'
Latschendieves 'Zigeuner', Latschendieves Mala 'Zigeunerin'
Lovi 'Geld'
Tschabo 'Junge'

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Ob man in Stotzheim heute auch noch Schöggel für diese Knolle hört? | © Freud, CC BY-SA 4.0
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Ob man in Stotzheim heute auch noch Schöggel für diese Knolle hört? | © Freud, CC BY-SA 4.0

Die Sprache der Fuleme, wie die Stotzheimer Kesselflicker:innen und Hausierer:innen im Umland genannt wurden, kennt noch weitere, für das Rheinland exklusive Wörter, die in keiner anderen Sprache auftauchen: Dattem 'weibliche Brust', Dehflingsche 'Geldbörse', Fortel 'Regenschirm', Jängelefläpp, Keimschen 'Kind', kuffe 'jemanden schlagen', Schlarät 'Wohnwagen der Kesselflicker', Schrotz 'Wagen', Schwämm 'Seife'. Alle anderen Elemente des jenischen Wortschatzes in Stotzheim sind dagegen klassisches rotwelsches Wortinventar – hier noch einige Beispiele: Jefönkelte 'Schnaps', Kaffruse 'Tölpel', keifen 'Schulden machen', leifzen 'tanzen', Meies 'Geld', Schiff 'Mädchen', Schöggel ‚'Kartoffel' oder schocken 'kosten'.

Aber damit noch nicht genug. In Stotzheim sind in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts umfangreiche Wortlisten erstellt worden, die offensichtlich eine weitere Händlersprache dokumentieren. Da diese Listen nahezu ausschließlich Wörter mit einem eindeutig jiddischen oder hebräischsprachigen Hintergrund verzeichnen, müssen im Ort auch einmal jüdische Händler:innen gelebt haben. Da eine der umfangreichsten Dokumentationen von einem Tuchfabrikanten erarbeitet worden ist, könnte es sich also durchaus um hausierende Tuchhändler:innen gehandelt haben. Außerdem haben in vielen ländlichen Orten des Rheinlands jüdische Viehhändler:innen gelebt. Deren Sprache, die von Nichtjuden durchaus als Geheimsprache verstanden wurde, ist deutlich vom Rotwelschen zu trennen. Auch die jüdischen Händlersprachen basieren im Grunde auf den Dialekten der Region, sind aber gespickt mit jiddischen Wörtern, die oft einen hebräischen Ursprung haben. Die wiederum haben oft Eingang in die vielen Rotwelschdialekte wie auch in die rheinischen Dialekte selbst gefunden, so dass heute die vielen Überschneidungen eine Abgrenzung schwierig machen. Hier eine kleine Auswahl von Stotzheimer Wörtern, die eindeutig den – ursprünglich – jiddischen Händlersprachen zuzuordnen sind:

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Rachmones oder Streit entsteht wohl schnell | © Pietro Saltini, gemeinfrei
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Rachmones oder Streit entsteht wohl schnell | © Pietro Saltini, gemeinfrei

Bachoze 'Geschäftsmann', Beheimes 'Vieh', Bezemmen 'Wurst', jauke 'teuer', Mesomme 'Geld', Rachmones 'Streit', Bosert 'Fleisch', Ponem 'Gesicht', Schammes 'Gerichtsdiener', Schores 'Verdienst', Zasserast 'Hehler', Katzoff 'Metzger', pover 'arm, billig', Scheikorim 'Lügner', teilachen 'hausieren gehen'
 
Man könnte sagen: Stotzheim ist ein für die rheinische Geheimsprachenforschung echter Glücksfall, der allerdings noch nicht gänzlich entschlüsselt ist. Wie der Ortsdialekt mit seinen rotwelschen Einsprengseln im Ort klingt, hört man hier: Sprechende Sprachkarte.